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Brief (Transkript)

Wolfgang Panzer an seine Eltern und Geschwister am 28.04.1915 (3.2012.2822)

 

Im Schützengraben. 28. April 1915.


№ 89.

Meine Lieben!
Nun wird es aber allerhöchste Zeit, daß Ihr wieder eine Nachricht von mir bekommt. Vor 4 Tagen (24.4.15.) ging die letzte Karte an Euch ab, mit dem Bericht von meinem Dachpappeholen im Granatfeuer. Seit dieser Zeit ist soviel schon geschehen, daß zum Schreiben keine Zeit mehr übrig blieb zudem ist auch die Brief-Versendegelegenheit unter den jetzigen Verhältnissen, in denen wir leben, sehr beschränkt. Ich will Euch also alles erzählen vom Augenblick, wo die Karte 88 im weiten Bauch des blauen deutschen(!) Briefkastens in Sulz verschwand und mit einem etwas zweifelnden Abschiedsblick meinerseits begleitet wurde. Bis zur einbrechenden Dunkelheit war noch einige Zeit, so ging ich mal auf den schönen großen Marktplatz zur Kirche. Zuerst konnte ich nicht recht daraus klug werden: gotische Bauart, gotische Fenster, ein mehr römischer als romanischer Bogen vor dem gotischen Portal, die Figuren ganz frisch, aber Haltung und Gesten niemals von heute, der achteckige Turm über der Vierung, keine Jahreszahl, die Mauersteine ganz frisch, weiß der Teufel, was das ist. Auf einmal sehe ich über einem Seitenpförtchen die Jahreszahl – nun weiß ich nicht mehr genau – 1897 oder 1876, jedenfalls aber wußte ich, daß die schöne gotische Kirche Ende vorigen Jahrhunderts erneuert worden ist. Das jüngste Gericht über dem Hauptportal und die Anbetung, dch[?]. d. d. 3 heiligen Könige über einem Seiteneingang sind aufgefrischte aber alte Figuren. Leider war die Kirche geschlossen. Auf dem Kirchplatz erinnerte ein Obelisk mit der Inschrift La ville de Soultz à ses enfants morts dans la guèrre de 1857-63(?) an die Zeit, zu der diese schöne Gegend noch unter Franzosenherrschaft stand. Mich befremdete dann noch ein Wappen an dem Spätrenaissance-Stadthaus (oder was es sonst ist; mit 4 Geiern im Feld: [Skizze Fenster] schematisch!
Da auf einmal sah ich, daß meine Kameraden verschwunden waren. Also: Batterie-Terrrraab! gings durch die Straßen zum Dorfausgang, wo ich beim Posten schnell Bescheid bekam und nach einiger Zeit, - es war inzwischen dunkel geworden - auch meine Kameraden und die beiden bepackten Wagen erreichte. Die Straße führte geradewegs ins Gebirge hinein, wir kamen an dem Drahtverhau vorbei, den ich überklettert hatte, und der von der Stelle, wo er die Straße schneidet, durch ein starres, zur Seite schiebbares Stück gebildet wird. So ist die Straße immer gangbar und kann doch im Augenblick gesperrt werden.
[Skizze Gelände] [Skizze Gelände]
Straße Verhau Straße Verhau
Solch ein Drahtverhau ist etwas ganz furchtbares. Ein paar Pfähle, zwischen denen der Stacheldraht ein bißchen kreuz und quer gespannt ist, sind nur im günstigsten Falle überhaupt überkletterbar, ohne zerissene Hosen und Blutrisse geht es kaum ab. Jetzt denke man sich anstürmende Infanterie!
2.
Die Hinterleute drängen nach vorne und die armen Opfer, die einmal mit dem Draht in Berührung gekommen sind, können in aller Ruhe abgeknallt werden! -
In aller Stille luden wir die Bretter und die Dachpappe auf der mondbeschienenen Landstraße ab, jeder nahm nun 2 Bretter auf die Schulter, und hinunter gings ins Wiesental, alles möglichst leise, denn der Feind kann uns hier genau beobachten und denn sind gleich ein paar Granaten da. Etwas schwierig war\'s, mit der Last unter einer Telephonleitung durchzukommen aber auch das ging, ohne daß der Draht zerrissen wurde – er führt vom Beobacherstand auf dem Berg zur Batterie am Fuß des Berges und ist natürlich sehr wichtig – und dann gings hinein in den dichten Tannenwald auf einem engen Pfand steil bergauf, der Weg verwandelte sich bald in tiefen Morast, in dem fast die Stiefel stecken bleiben wollten, aber durch müssen wir! Die Bretter sind verflucht schwer, und es geht so steil bergauf. Endlich, endlich kommt die Fahrstraße, jetzt nur noch 100 Schritte, da ist schon unsre Gulaschkanone, ein Stückchen weiter oben nimmt ein Offizier die Sachen in Empfang, mit einem Seufzer der Erleichterung und schweißgebadet verschwinde ich im Unterstand. Die Kameraden sind noch auf, eine Kerze verbreitet so viel Helligkeit, daß man nicht mit den andern zusammenrennt, dann öffne ich meine Taschen und verteile Würste, Keks und Schokolade, die einzigen Lebensmittel, die in Sulz käuflich waren. Wie schieben verdammt Kohldampf die ganze Zeit. Eine fingerdicke Schnitte Brot für den Mann ist etwas zu wenig für 24 Stunden, und von Kaffeesaufen wird man schließlich auch nicht satt. Na, wir legten uns, so gut es ging auf Boden und Bänken zur Ruhe, Mantel, Stiefel und Mütze behalten wir selbstverständlich an, die Zeltbahn dienst als Unterlage, die Decke wird um Oberkörper und Kopf gewickelt und so schläft man ganz gut. Mein Kopfkissen bildeten die Stiefel eines schlafenden Kameraden, der bei jeder Beinbewegung meinen Kopf gegen die über mir befindliche Bank drückt, ein anderer hat sein Haupt zwischen Tornister und einer leeren Kiste eingeklemmt und röchelt etwas, weil er von der ohnehin nicht ganz einwandfreien Luft nicht genug bekommen kann, ein Dritter liegt auf einem spitzen Stein, kann aber nicht zur Seite rücken, weil er sonst von dem von oben heruntertropfenden Wasser durchnäßt wird – c\'est la guèrre, macht alles nichts, wenn man nur schlafen kann, ich war doch recht müde nach dem 5 ½ stündigen Marsch! Und hab\' sehr gut geschlafen! - - Es ist wohl inzwischen Tag Tag geworden, denn einer ruft herein: Kaffe holen! Und bald […] wir mit schlaftrunkenen Gesichtern und steif gefroren zur Kohldampfabwehrkanone. Die rosig angehauchten Wangen verraten, daß wir auch in diesen Umständen gut geschlafen haben, der Dampf aus dem Kaffekessel belebt die Glieder ein wenig und der heiße Kaffee wärmt den Körper wieder an-
3.
genehm. Etwas Brot gibt\'s auch. Post wird verteil, hurra, ein Brief von Mutti und 3 Paketchen! Welche Wonne! Heißhungrig stürze ich darüber her und labe mich an beiden. Zu Hausepost alles gut, bei Johannes auch, und noch mal so freudig ziehen wir zur Arbeitsstätte, unserm Unterstandneubau. Zudem ist prächtiges Wetter, heute sieht man auch weit, „ob sie wohl heute stürmen?“ Wir schaufeln und hacken und tragen riesige Baumstämme herbei, denn einigermaßen sicher gegen Artilleriefeuer muß der Unterstand doch sein, und daß sie schon hierher gefunkt haben, zeigen uns die zahlreichen Granatlöcher Schrapnellstücke und -kugeln, die wir überall im Gestrüpp finden. Einige der Riesentannen haben ihre Krone verloren und ragen kahl und stumm, aber als berede Zeugen des Kriegs, in den schönen blauen Frühlingshimmel. Endlich wieder schönes Wetter! Die Regentage waren schauderhaft, alles war furchtbar mies gestimmt und dann hat der Divisionsgeneral auch noch gesagt, wir blieben da, bis wir stürben – alles war heute vergessen, der General war ein ehrenwerter Mann, denn er hat ja nur gesagt, wir bleiben da, bis wir stürmen, und beim Sturm sollten wir ja gerade als Reserve zur Hand sein, dazu waren wir ja hier. Also war alles in bester Ordnung und so wurde es ½ 4 Nachm. Da hieß es: Alles bereit machen! Umschnallen, Helm aufsetzen, Gewehr in der Hand, Tornister gepackt, im Unterstand auf weitere Befehle warten! 10 Minuten vor 4 etwa wurde das Artilleriefeuer immer heftiger. Unser Lager befindet sich ungefähr in der Mitte zwischen Artilleriestellung und dem Schützengraben am Hartmannsweilerkopf. So saußen natürlich Grüße und Gegengrüße mit schauderhaftem Heulen hoch über den schönen großen Tannen hin und wieder. Das Krachen wurde immer schlimmer. Die Luft erzitterte, einzelne Windstöße fuhren hie und da durch die Bäume, daß die Äste krachten, so ungeheuer war die Lufterschütterung. Und oben drüber spannte sich ein herrlicher blauer Himmel mit weißen Wölkchen, und aus der sonnenbeschienenen Ebene leuchteten die sauberen weißen Dörfchen herauf, und ganz hinten im Dunst grüßten die Schwarzwaldberge herüber, eine Hummel summte vergnügt den Waldweg entlang – alles war so friedlich und schön und hier mußten die bösen Menschen zwieträchtig einander Tod und Verderben bereiten! - Ach, wie herrlich wird es sein, wenn in diesen blauen Bergen wieder Friede ist!! - Wir saßen im Unterstand und lauschten, es war eine wahre Höllenmusik, da – auf einmal verstummte die Artillerie und schon gings los – tak, - tak tak – tak tak tak tak tak tak, Maschinengewehre und Infanterie arbeiteten wie wahnsinnig. Jetzt stürmen sie! Und nun fing auch die Artillerie wieder an, das war ein Heulen und Krachen, dazwischen hörte man ganz deutlich das Explodieren der Handgranaten und Mienen.
4.
Im Offiziersunterstand hörte man die Fernsprecherklingel. Gleich drauf ging\'s auch schon von Mund zu Mund: „Der Sturm ist gelungen! Den Kopf haben sie! Die Artillerie hat schon 3 mal um 100 m nach hinten gestaffelt!“ *)
*) 100 m weiter geschossen, um die Fliehenden am feuern gegen die Verfolger zu hindern.
Das war eine Freude! - um 8 ¼ wurden wir alarmiert. Und nun gings los, mit Sack und Pack, den Fahrweg mußten wir bald verlassen und die ganz schauderhaft steile Höhe erklimmen. Und der steile Bergpfad wollte und wollte kein Ende nehmen. Da hieß es auf einmal „Rechts ran, Platz machen!“ Einige Gardeschützen kamen an uns vorbei, schnell schwirrten die Fragen: „Wie steht\'s? Habt ihr viel Verluste? Habt ihr Gefangene?“ „Alles gut! Nur 3 Tote! Gefangene kommen welche hinter uns her!“
Und richtig, da drangen auch schon französische Laute an unser Ohr, jedesmal ein Feldgrauer mit aufgepflanztem Seitengewehr ging zwischen 2 Gefangenen. Wir „Einjährigen“ frugen die Vorbeigehenden: „bon soir, Monsieur, Comment ça va-?“ „Oh, ça va bien – pas trop mal“ und was die Antworten mehr waren. Sie hatten jedenfalls das Kriegsleben auch satt u. wußten, daß sie es in deutscher Gefangenschaft gut haben würden. Ein Alpenjäger war auch unter den schönen großen Gestalten, er hatte ein großes Ziegenfell über Kopf und Rücken und sah wie ein Krieger aus dem Cimbern- und Teutonenkrieg aus. Endlich waren wir am Ende unseres Wegs. Tornister wurde abgelegt, Gewehr um den Hals gehängt und nun traten wir zum Arbeitsdienst an. Jeder bekam leere Sandsäcke, Stacheldrahtrollen, Schaufeln, Picken, Pfähle oder sonstiges Schanzzeug und damit kletterten wir durch den alten Schützengraben. Es war inzwischen Mitternacht geworden aber der Mond verbreitete so viel Licht, daß man seinen Vordermann gerade sehen konnte. Neben einem Gebirgspaschutz[?] verließen wir den Graben und bewegten uns nun auf dem Gebiet, wo heute der Sturm stattgefunden hatte. Ein starker Duft nach Harz und frischem Holz erfüllte die Luft und im Mondlicht sehen wir noch, wie unsre Artillerie gearbeitet hatte. Schauderhaft, ganz schauderhaft. Überall zersplitterte Baumstämme, Äste, abgeschossene Riesentannen, eine schreckliche Verwüstung! Die vordersten waren schon im erstürmten Französischen Graben, der als Reservestellung ausgebaut werden sollte, wir bildeten eine Kette und reichten das Zeug von Hand zu Hand. Bis um ½ 8 arbeiteten wir angestrengt! Hunderte von gefüllten Sandsäcken nahmen ihren Weg nach oben in den franz. Graben. Endlich waren wir fertig. Todmüde und hungrig streifte ich durch dieses Feld der Verwüstung, besah mir die Leichen, aß französisches Weißbrot und war froh, als wir um 9 zum Abstieg antraten. Die Eindrücke waren zu unangenehm, die ich heute morgen empfangen hatte. Überall diese furchtbare Verwüstung, überall lagen Handgranaten, ein nicht krepierter 21er, zerbrochene Gewehre, Schutzschilde, der unangenehme Geruch und der leere Magen – alles ist jetzt Gott sei Dank vergessen, wie liegen hier in ein feinen Stellung SO vom H. kopf, haben genug zu essen u. zu schlafen, Sonnenschein, grandiose Aussicht, heute Nachm. im Graben schreibe ich weiter. Einstweilen 1000 herzl. Grüße Euer Wolf.
Die ganze Post, die ich gestern u. heute bekam, beantworte ich heute Nachm. im Graben. Einstweilen nur Euch allen vielen; vielen 1000 Dank dafür!!

 

 



Ansicht des Briefes

 

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