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Brief (Transkript)

Wolfgang Panzer an seine Eltern und Geschwister am 25/26.12.1914 (3.2012.2822)

 

Brécy a/d. Aisne, Nachm. v. 25. Dezember 1914.


4. (29/12 14)
Meine Lieben!
Ich könnte mir keine bessere Zeit u. Gelegenheit denken, nach Hause zu schreiben, als den ersten Weihnachtsfeiertag! Ich sitze hier so gemütlich im warmen Zimmer neben dem Christbaum, esse ab und zu ein Gutsle aus der Schachtel, die mir mein liebes Mutterle so liebevoll gepackt hat, und lasse meine Gedanken in die Heimat schweifen. Vielleicht sitzt ihr jetzt auch im Weihnachtszimmer u. lest u. plaudert und eßt Gutsle, wie gerne wäre ich bei Euch!
26. Dez. 1914. Weit bin ich nicht gekommen, gestern, mit meinem Brief! Es kam nämlich grade Johannes u. da gingen wir ein bischen miteinander spazieren, da wir uns fast nicht sehen. Er ist nämlich dem ersten Zug zugeteilt. Sein Zugführer ist, denkt Euch nur, - Dr. Geisow aus Frankfurt, der Dich lieber Vater, recht herzlich grüßen läßt. Das Wiedersehen feierten wir gleich am ersten Morgen vor dem Hause des Wachtmeisters hier in Brécy. Sein Haus ist natürlich auch nicht anders, als alle französischen Häuser hier im Dorf, klein, niedrig, mit flachem, wenig oder garnicht vorspringendem Dach. Durch den Eingang gelangt man gleich in die Küche, das heißt den wohnlich eingerichteten Raum mit dem Kamin, der ja den Mittelpunkt jedes französischen Hauses bildet. In unserem Quartier ist es geradeso. Eine Steintreppe führt zu der niedrigen Türe der Küche. Der Kamin bildet hier die Hauptsache. Er ist natürlich entsprechend der Armut der Einwohner ganz einfach u. ohne geringsten Schmuck. Aber die Landwehrleute haben mit allerlei Tüchern u. Vorhängen und Brodbrettchen[?] einen sehr behaglichen Raum hergestellt. Am schönsten ist es, wenn man morgens aus dem kalten Stall ins Wohnhaus kommt und wird dann von dem warmen Kaminfeuer u. dem Kaffeeduft umgeben. Wir setzen uns dann alle gemütlich an die lange Tafel im Wohnzimmer, zu dem wir durch eine ganz niedrige Türe zwischen Kamin u. Wasserstein gelangen. Die ganzen Wände sind mit Holzfächern umkleidet; hier finden ungezählte Feldpost- und Liebesgabenpackete ihren Platz. Von der Decke herab hängen allenthalben große Würste und Speckschwarten, einmal zur besseren Erhaltung durch den vielen Tabak u. Kaminfeuerrauch, dann aber auch, um sie vor den Mäusen zu sichern. Die französische Maus (Mus edax[?] var. Panzeri) ist wie versessen auf Liebesgaben jeder Art) und es ist ein wahres Glück, daß die Franzosenfamilie im Hause nebenan 3 oder 4 Katzen hat, darunter eine Art Angorakatze. An Tieren gibt es hier im Dorf sonst (außer den Pferden natürlich!) einen Hund u. zwei Milchkühe, an deren Stall mit Kreide geschrieben steht: „Milchkühe! Für die Kinder lassen!“ Das sind die deutschen Barbaren! Im Dorf sieht man natürlich überall die Einquartierung. Überall Kreideaufschriften: „Sechster Zug“, „12 Pferde“, „Wache“, „Wachtmeister“, Hauptmann Dr. Res. Art. Mun. Kol. 19“ u.s.w. Das ganze Dorf besteht nur aus einer Straße, die sich dem Talgehänge der Aisne anpaßt. Am östlichen Ende liegt unser Haus mit freiem Blick über das Flußtal, am westlichem auf der Höhe steht beherrschend die neue im gothischen Stil erbaute Kirche, in der die denkwürdige Weihnachtsfeier stattfand. Wir traten in Mantel, Helm u. Säbel vor dem Hause des Wachtmeisters an u. stiegen dann zu 4 wie die Gralsritter, schweigsam in der Abenddämmerung die Dorfstraße hinauf zur Kirche. Jeder hatte einen gedruckten Zettel bekommen mit der Ordnung der Feier. Ich schicke ihn Euch mit, hebt ihn bitte recht gut auf. Eine solche Erinnerung möchte ich zeitlebens aufbewahren!
Die Feier war ganz einzigartig: Der Altar war ganz mit Lichtern geschmückt, rechts u. links davon standen zwei große brennende Christbäume u. ließen das schlichte Weiß der ganz einfachen, wunderbar harmonischen Linien der gotischen Bogen in einzigartigem feierlichen Licht erstrahlen. Der Duft der Kerzen, der hundertstimmige inbrünstige Chorgesang, alles war so stimmungsvoll, so heilig! Und nachher zogen die Krieger schweigsam die Dorfstraße entlang, ein wunderbarer Sternenhimmel blickte auf sie nieder, friedlich u. klar, wie wenn er nichts wüßte und hörte vom Kanonendonner, der dumpf, wie fernes Gewittergrollen, zu uns herüberklang. Ja, unsere Kameraden in der Front haben keinen so schönen heiligen Abend, wie wir, das sagte uns auch unser prächtiger Unteroffizier in seiner Ansprache am Weihnachtstisch beim brennenden Christbaum, während wir unsere Gaben auspackten. Jeder bekam eine ganze Schachtel Gebäck, 1 Hemd, 2 Paar Socken, 1 Leibbinde, 1 Kopfschützer, 6 Zigarren u. 6 Zigaretten! So war für uns gesorgt! Das war eine Freude! Dann wurde die Feldpost verteilt, jeder erhielt sein Kistchen mit Geschenken, ich holte mir meine Stückchen herüber u. packte sie, Gutsle essend aus u. ergötzte mich an dem entzückenden Geschenk. Ich danke Euch viel 1000 mal, meine herzlieben Eltern! Wie habe ich mich über ein Weihnachtsgeschenk gefreut. Mein goldiges Christbäumle stellte ich vor meinen Platz u. dachte an Euch, meine Lieben, u. hoffte, daß ihr beim Lichterglanz ebenso froh wärt wie ich! - Nun lebt alle wohl, grüßt mir alle Bekannten u. seid in Liebe umfaßt v. Eurem Wolf.

 

 



Ansicht des Briefes

 

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