Nach Zeitraum suchen

von 
bis 
SUCHE ZEITRAUM
Bestandskatalog PDF

Brief (Transkript)

Wolfgang Panzer an seine Eltern und Geschwister am 04.02.1918 (3.2012.2822)

 

Warschau, 4. 2. 1918.


339.

Meine Lieben!
Mit Schrecken kommt mir zu Bewußtsein, daß Ihr gestern gar keine Nachricht von mir bekommen habt. Freilich, meine Zeit war gerade gestern sehr in Anspruch genommen, für mich allerdings, aber zu einem Kärtchen hätte es schon reichen müssen. - Vorgestern Abend, nachdem ich den Brief im Offiziersheim eingeworfen hatte, aß ich dort erst gut zu Nacht, versuchte dann vergeblich, einen Platz für „Hugenoci“ zu bekommen und wies mit blutendem Herzen einen Jungen zurück, der mir eine Parket karte für 10 Kr anbot, die sonst 4,50 Kronen kostet. Ist das nicht unverschämt? - In der Stadt war inzwischen eine große Volksmenge zusammengelaufen, unzählige Reden wurden gehalten, nach jedem Satz brach die Menge in ein begeistertes Gröhlen aus und ungezählte Male wurde ein Lied mit eigenartigem Rhythmus gesungen, wahrscheinlich war es eine polnische Hymne. Die Hauptschreier und Spektakalmacher waren halbwüchsige Burschen, denen die Menge stumpf wie [...] nachlief, wenn sie gröhlend und mit Stöcken fuchtelnd loszogen. Es soll übrigens zu blutigen Ausschreitungen gekommen sein, auf dem Weg zum Bahnhof sah ich auch 1 Zug östreich. Soldaten im Laufschritt mit Gewehren heranrücken. - 1030 fuhr ich auf „erstklassigen“ Polstern zusammen mit einem Hauptmann meines Regiments westwärts, im Morgengrauen donnerte der Zug über die Weichselbrücken, und der schmutzige Bahnhof von Krakau nahm mich und Nix mit allem Gepäck recht wenig liebevoll (seelisch) auf. Na, ein warmer Kaffee und eine Katzenwäsche (im Mantel) am Bahnhofswasserhahn erfrischten doch etwas und wir traten nun unsere Wanderung durch Galiziens alte Hauptstadt an, besahen uns die vielen alten, z.T. ganz prächtigen Kirchen, die im Lichterglanz des sonntäglichen Gottesdienstes wunderbare Innenbilder zeigten, stiegen auf den Wawel mit der herrlichen Schloßkirche (reiche Fürstenpräfte[?]!), an deren Portal an Eisenketten ein paar Mammutknochen hängen(!), „sahen unten die Weichsel rauschen“, leider so im Nebel, daß wir nicht mal das jenseitige Ufer erkennen konnten, schlossen daran einen hochinteressanten Gang durch das Getto, [Bleistiftskizze Jude(?)] wo wir uns an den lebendigen und an die Schildergemalten „Cheim Affenkraut“ und „Selmar Schamroth“ oder „“Teitelbaum“ und „Bienenstock“ königlich ergötzten. Alles in Allem nahm ich von Krakau den Eindruck mit, daß es ebenso schmutzig wie interessant ist. Nach einem Bahnhofsmittagsmahl bestiegen wir 145 den Zug, steigen in Trzebinia um und erreichten um 600 N. das unvergeßlich südwestpolnische Statiönchen Zabkowice, auf dem wir bis zum nächsten Anschluß nur 6 Stunden zu warten hatten. Vorderhand: unser Badezimmer, doppelt sich hoch, 1 langer Tisch, vom Ofen die letzten Kalorien zwischen dem Pappdeckel vor der zerbrochenen Scheibe in die kalte Nacht hinausfliegend, o, o, - Bahnhof Köln, wie schön bist Du! - Aber nun, mit heißem Tee und Kalbfleisch(!) gingen auch diese Stunden herum, der Schnellzug von Kattowitz war schwach besetzt, ab Czensiochowo[?] blieb ich allein, streckte mich aufs Polster, wickelte mich in die Decke und schließ ein, bis mich ein aufgeregtes „Warschau! Warschau!“ schreien erweckte. Ich sprang auf mit dem Gefühl, daß der Zug anscheinend schon länger hielt, öffnete das Fenster, sah einen hellen Bahnsteig und rieb mir zunächst einmal die Knochen, die stocksteif gefroren waren (der Wagen war ungeheizt!) und mit dem Blutumlauf kam langsam auch wieder der Verstand in Tätigkeit und ich stellte fest, daß wir anscheinend schon da seien. Der Strand des Uhrzeigers, verglichen mit der fahrplanmäßigen Zeit des Eintreffens, legte den Schluß nahe, daß wir schon länger da sein mußten, na, ich wickelte meine Decke zusammen, zog den Mantel an, schnallte um, setzte die Mütze auf, hängte die Kartentasche um, immer hübsch eins nach dem anderen, nahm den Rucksack und stieg eben aus. Draußen wartete der Nix mit der Kiste, freute sich, daß ich doch da war, na ja, wozu denn da aufregen? - Auf dem Bahnhof wusch ich mich gründlich, ließ mir dann auf der Stadtkommandatur ein Zimmer im Hotel de l\'Europe, dem besten Warschau\'s, anweisen, Nix ging ins Soldatenheim, nicht weil davon, alle „Leiden“ waren vergessen. Hier ist alles zu Stein u. Bein gefroren, 3 fingerdicker Rauhreif hängt an [...] u. Zweigen. Vor- u. Nachm. Stadtgänge mit Nix, der getreulich in jede Kirche mit reinläuft, Mittag im Offiz. Kasino sehr gut gespeist. Morgen ausführlicher! 1000 herzl. Grüße Euer Euchl. Wolf.

 

 



Ansicht des Briefes

 

Briefe aus diesem Konvolut:
top