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Brief (Transkript)

Wolfgang Panzer an seine Frau am 05.07.1944 (3.2013.355)

 

76.

Auf dem Balkon am See, 5.7.44.



Mein geliebtes Mädele!
„Schreiben ist ein Missbrauch der Sprache, stille für sich lesen ein trauriges Surrogat der Rede“.
Diesen schönen Satz habe ich eben in Dichtung und Wahrheit am Schluss des zehnten Buches gelesen. Aber wenn mein Schätzle nicht in Sesenheim ist und ich jenseits der Alpen bin, dann würde mich auch ein schnelles Rösslein nichts nützen und ich muss halt doch zu der geschätzten Feder greifen, in diesem Falle sogar der Schreibmaschine, von der ich freilich zweifeln möchte, ob Goethe ihr auch wie einer Sensenschmiede, die er im Saargebiet besucht, nachsagen würde, dass er „sich an jener erfreue, dass sie sich an die Stelle gemeiner Hände setzt“ oder gar „diese nicht genug bewundern kann, indem sie in einem höheren organischen Sinne wirkt, von dem Verstand und Bewusstsein kaum zu trennen sind“. Jedenfalls soll mein herzliches Wuile wieder einen lieben Gruss haben, den ich getrost nach Heidelberg sende in der sicheren Erartung, dass der Herr Armeefeldpostmeister uns weiter die Treue hält und die Post so schön schnell befördert wie bisher. Du wirst ja wohl vielleicht bis zum 13. in Heidelberg bleiben, da Johannes doch erst ab 14. Ferien hat. Oder ist das wieder umgestossen worden? – Ich habe heute einen besonderen Tag gehabt, ich bin nämlich heute Nachmittag im – Kiiiinole gewesen!!! Freilich nicht über die Strasse, sondern im grossen Saal unseres Lazarettes, in dem 33 Verwundetenbetten stehen, und auch nicht etwa selbst hingelaufen, sondern – hättest Du das nur sehen können – auf dem Buckel des Unteroffiziers Bissingers, der micht richtig Huckepack über Flure und Treppen hinuntertrug! Und im Saal sass ich in einem Lehnstuhl, bequem gegen ein Bett gelehnt und das Gipsbein auf einem Stuhl vor mir und genoss den sehr spannenden Film „Die drei Codonas“, einen wirklich guten Artistenfilm mit bewegendem Ende. Das waren mal zwei Stunden sehr willkommener Zerstreuung und Unterhaltung. Ausserdem hatte ich Vormittag langen Besuch von Prof- [sic!] Lietzmann, von dem ich mir viel über seine religiöse Malerei erzählen liess. Er mal die Bilder zur Apostelgeschichte, zur Apokalypse usw. auf Karton in 45 mal 70 cm Grösse mit Temperafarben. Sie werden dann in Postkartengrösse im Dreifarbendruck und einzelne auch in fast Originalgrösse in einem Mehrfarbensteindruck in den Handel gebracht. Ich schrieb Dir früher, dass Gesch seinerzeit Sekretärin bei der Berliner Firma war, in deren Auftrag Lietzmann arbeitet.
Dann hatte ich heute wieder Besuch von Hamm, Pohlmann und Schmalzer und Eichler. Ich erfahre dadurch immer das Neueste, erhalte etwa noch eingelaufene Post und kann mir Sachen bringen oder mitnehmen lassen. Das ist schon ein grosser Gewinn, wie ja überhaupt meine ganze Lage wirklich in nichts auch nur irgendwie günstiger sein könnte als sie eben ist. Könntest Du nur mal ein bissle bei mir auf meinem Balkon sitzen und mit mir hinausschauen. Aber ich versprech Dir, dass ich mit Dir mal hierher und in dieses Albergo gehe, damit Du dann all das nachprüfen kannst, was ich Dir von hier schreibe. Auf dem Weg nach Le Rose….
Ich habe so sehr grosse Freude an Dichtung und Wahrheit. Jetzt bin ich gerade in Sesenheim. Hast Du mal ganz in der Urschrift gelesen? Ich kannte ja bisher nur die Geschichte als solche, hatte sie aber nie in Goethes eigener Darstellung gelesen. Und auch all das Landschaftliche macht mir soviel Freude und die Sprache, in der er sich ergeht. Ich möchte Dir so gerne einmal einiges daraus vorlesen. Oder kennt mein belesenes Fraule doch schon alle zwanzig Bücher? – Damit ich derweilen meine Sprachkenntnisse nicht verfallen lasse, halte ich jeden Tag lange Gespräche mit meiner kleinen Freundin Nora Graziani, während sie das Zimmer aufwischt oder das Waschwasser wegträgt, und ich habe schon eine grosse Menge Redewendungen aus der Umgangssprache kennen gelernt. Jetzt haben wir auch einen italienischen Sanitätssoldaten aus Sizilien, der immer gern lange bei mir steht. Den habe ich schon tüchtig ausgefragt nach seiner Heimat. Er spricht stark mundartlich, und da muss ich mich tüchtig zusammennehmen, ihn zu verstehen. Ich habe mir jetzt von der Einsiedelei meine Wörterbücher kommen lassen, um den Versuch zu machen, den berühmten Roman von Manzoni „I promessi sposi“ im Urtext zu lesen. Ich habe schon ein paar Seiten gelesen, aber es kommen eine Unmenge mir unbekannter Wörter vor. Einige, die ich erfragte, wurden mir als dichterische oder schriftstellerische Ausdrücke genannt – um diese zu kennen, muss man natürlich viel weiter und planmässiger in die Sprache eingedrungen sein. Aber ich bin zufrieden damit, dass ich mich jetzt ohne weiteres mit jedem unterhalten kann. Damals die fast zweistündige Unterredung mit dem Kollegen auf der Sternwarte von Teramo hat mir ungeheure Freude bereitet, weil ich dabei vollkommen vergessen hatte, dass wir in einer fremden Sprache unsere wissenschaftlichen Meinungen austauschten. Es würde mir allerdings jetzt schwer fallen, ohne weiteres ins Spanische hinüberzuwechseln, aber wenn ich mit meinem Fraule wieder mal dorthin reise – und dass ich das tun werde, steht ohne allen Zweifel fest – dann wdrde [sic!] ich di todo mi corazon spanisch sprechen. – Weisst Du, ich habe oft solches Bedürfnis, wieder mal englisch zu reden. Man rostet ja doch etwas ein, obwohl die Sprache als Ganzes einem nicht mehr verloren gehen kann, so wie man Radfahren auch nicht verlernt, wenn man auch jahrelang nicht mehr auf dem Rad gesessen hat oder Autofahren. Aber es ist doch gut, immer mal wieder zu üben. Ich habe in der Einsiedelei einen englischen Kriminalroman etwa zur Hälfte gelesen, das bereitete mir keinerlei Schwierigkeiten, obwohl immer wieder Wörter vorkommen, die ich einzelm [sic!] nicht hätte übersetzen können. – Wie sehne ich mich danach, wieder mal mit Dir in ein 15 c[ent] Cinema oder Talkie zu gehen, am liebsten in unser angestammtes in Oakland, selbst wenn wir wieder lang nach einem Parkplatz suchen müssten, gelt! Ach überhaupt mein Fraule, wir haben, noch so unendlich viel anzuschauen miteinander. Und Canton möchte ich halt zu liebend gern einmal wieder sehen. Es ist ja eben doch ein Stück Heimat geworden durch unsern Johannesbub. – Alter Schwärmer, wirst Du vielleicht sagen, aber ich hab ja das unternehmungslustigste Weible der Welt und darum hab ich gar keine Scheu, solche wonnesamen Pläne zu spinnen. Wenn ich anrufe und frage: „Fraule, wie wärs?“, dann krieg ich ja doch die Antwort: „Wann fahren wir?“ – Oh Du mein Fraule, wie hätten wir je so viel Wunderbares miteinder [sic!] eintun können wenn Du nicht so geantwortet hättest, wie Du hast?!! Ich bettachte [sic!] ja meinen jetzigen Aufenthalt auch nur als eine Art Kontingent von uns beiden, indem Du in der Zwischenzeit andere Dinge eintust, die auch uns beiden ganz gemeinsam gehören.
Draussen ist inzwischen wieder ein Gewitter aufgezogen – ich habe die ersten Seiten des Briefes auf dem Balkon geschrieben, jetzt ruht die Maschine wieder mit Hilfe des Kartenbretts auf dem Gipsbein – ich will dem Arzt noch ein paar Verbesserungsvorschläge für die Form der Gipsbeine machen, damit man auch Trinkbecher aufstellen, Taschenuhren und Fieberthermometer drin verwahren kann und gegebenenfalls auf dem sonnigen Balkon im Schatten seines Gipsbeins ausruhen kann. Es gibt noch viele Möglichkeiten für die Technik. Aber ich hab ja meinen jüngsten Bruder Ingenieur studieren lassen, der muss das dann ausführen --- Ja also, das draussen aufgezogene Gewitter gehört zu der langen und völlig ungewöhnlichen Reihe von Gewittern, die den ganzen Juni ausgezeichnet haben. Prof. Lietzmann, der ja nun schon 35 Jahre hier wohnt, hat das noch nicjt [sic!] erlebt. Es ist eben alles aus den Fugen.
Die Nachrichten aus dem Osten sind unerfreulich, aber ich glaube, wir können auch da ruhig sein – es geschieht schon das Erforderliche. Dass der Kampf überall schwer ist, darüber besteht kein Zweifel. Nun muß
[Rand dieser 6. Briefseite:] dein Wöffle aber Schluß machen. Grüß H.d.H. herzlichst, die wirst jetzt hoffentlich mal etwas mehr Ruhe zu einem Spaziergang haben. Blühen die Edelkastanien am Waldhang oder sind sie schon verblüht? – Das Ahornblättle im vorvorigen Brief war aus dem […]strauß. Er hat einen leuchtendroten Ahornbaum in seinem Garten. Und ich habe eine leuchtendrote Liebe in meinem Herzen zu meinem kleinen sehnsüchtigen Fraule und geb ihm liebe liebe Küßle!
Immer dein Wolf
[Rand der 4. Briefseite:] Vielleicht triffst du gerade Peter bei Marianne? Liebste Grüße!
[Rand der 5. Briefseite:] Grüße die Eltern herzlichst! Und die Pudel!

 

 



Ansicht des Briefes

 

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