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Brief (Transkript)

Johannes Wierich an seine Familie am 16.05.1915 (3.2009.0064)

 

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Raches, den 16.5.15.



Meine Lieben!
Nun sind die dienstfreien Sonntage wieder vorbei. Haben wir doch heute einen Marsch gemacht von 6 Uhr bis Mittags 1 Uhr. Allerdings haben wir dafür bis 5 Uhr Mittagspause. Nun sind wir 2 Tage hier und zwar in Massenquartieren. Zu 70 Mann liegen wir in einem Tanzsaale. Vor uns haben darin rotzkranke Pferde gelegen. Infolgedessen ist der Aufenthalt dort keineswegs angenehm. Hoffentlich werden uns heute noch Einzelquartiere angewiesen. Der Boden des Saales ist hoch mit Zementstaub bedeckt, darauf liegt Stroh als Lagerstätte; trotzdem ist die Staubentwicklung kaum zum Aushalten. Doch könnte man vorzüglich schlafen, wenn der Kanonendonner einen in Ruhe ließe. Wir liegen hier ca. 30 km hinter der Front, das ist so weit wie von Bonn bis Cöln. Die Orte an der Front, in deren Nähe wir uns befinden sind Arras und Ypern. Über die Kämpfe an diesen Orten berichten die Zeitungen ja täglich. Zur Zeit sind dort heftige Artilleriekämpfe im Gange. Tag und Nacht dauert das Schießen an. Am Tage zittern die Fensterscheiben, und Nachts klirren die Scheiben, und rappeln die Türen; die Erde zittert. Solch starkes Schießen habe ich bis jetzt noch nicht gehört. Dazu werden hier jeden Tag feindliche Flieger beschossen. Tagtäglich lassen die selben sich hier sehen, da sieht man wie in der Luft die Schrapnells unter hellem Blitzen platzen und kleine weiße Wölkchen hinterlassen. Die Flieger sind dann gewöhnlich so hoch, daß man sie nicht sieht, - Die ganze Umgegend wie der Ort selbst liegt voll von Truppen. Wahrscheinlich kommen wir nach einiger Zeit hier auch zum erstenmale ins Gefecht. Augenblicklich ist jedoch noch nichts bekannt.
Die Gegend hier hat kaum direkt unter dem Kriege gelitten. Verwüstungen sieht man kaum. Die Fabriken liegen still, viele Läden sind geschlossen und die Männer fort in den Krieg. Doch kann man hier noch ziemlich kaufen; fast alle Colonialwaren sind vorrätig, nur Mehl fehlt. Die Leute erhalten gegen Geld ihr Brot geliefert, 200 gramm für den Tag pro Kopf, wie bei Euch. Die Leute, die kein Geld besitzen, werden ausgewiesen. Niemand bekommt Brot und Kartoffel geschenkt. Sonst sind die Leute gut gesinnt und tuen den Soldaten gern einen Gefallen. Da hier noch keine Küche für uns eingerichtet ist, werden uns die Rohmaterialien (Fleisch, Erbsen u. s. w.) geliefert, die wir uns selbst zubereiten sollen. Da sind die Leute gerne bereit, sie zurecht zu machen. Wirtschaften sind in dieser Gegend soviel wie zu Hause. Selbstverständlich gibt\'s dort alle möglichen Getränke, auch Bier. Die Brauereien sind gewöhnlich noch alle in Betrieb.
Seitdem wir hier sind haben wir noch keine Postsachen erhalten. Voraussichtlich werden heute Abend die ersten Postsäcke verteilt. Ich werde dann gleich wieder schreiben.
Mit herzlichem Gruß
Johann

 

 



Ansicht des Briefes

 

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