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Brief (Transkript)

Oskar H. aus Meckenheim an Marie Louise P. nach Zittau am 16.12.1973

 

Meckenheim, den 16.12.73.


Dear Mrs. P.!

Vielen Dank für Ihren Brief. Ich antworte ja immer nicht sofort, sondern lasse lieber twas Zeit vergehen, weil ich meist nicht sofort in der Lage bin. Dieser Advent ist, wenn ich uns so ansehe eigentlich noch weniger ein richtiger Advent wie in den anderen Jahren. Es geht alles viel mehr auf das Rationale hinaus als auf das Emotionale. Aber der Mensch kann nicht immer nur aus dem Verstand leben, sosehr ihn das zum Menschen macht. Er bnötigt auch das Gefühl. Leider kommt das bei uns immer mehr zu kurz. Es liegt an uns selbst. Ich z.B. mißtraue dem Gefühl sehr. Jedenfalls, wenn es öffentlich w ird. Es ist einfach das Wissen für vielles sehr hinderlich.
Früher haben wir uns der Poesie z.B. der Weihnachtsgeschichte nach Lukas einfach überlassen und sie so angenommen, wie sie eben dasteht. Heute fangen wir an zu deuten. Machen wir Abstriche. Suchen die Wahrheit hinter dem Text. Und wissen schon, dass wir immer suchen müssen, daß wir die Wahrheit nicht festhalten können wie einen Schatz. Das aber macht uns unruhig. Heilsam unruhig, das will ich gerne glauben, aber eben auch unstet, schweifend.
Die äusseren Ereignisse in diesen Tagen hinterlassen den Eindruck, daß wir alle an einer Wende stehen. Noch allerdings lässt sich nicht erkennen, wohin der Kurs nun gehen soll. werden wir auf abschüssiger Bahn immer schneller und schneller in einen Abgrund schlittern oder werden wir eine Sternstunde nutzen können, um einen neuen Anfang zu wagen und zu finden.
Werden die Staaten Europas sich in dieser Situation zusammentun oder auseinanderstreiten? Wird Europa die Herausforderer der Araber mit einer Bewegung zur Autarkie oder zum Gegenangriff beantworten oder wird es einsehen, daß die dritte Welt nicht ständig in ihren Rechten eingeengt werden darf. Werden wir verstehen lernen, daß es keine vollständige Unabhängigkeit mehr geben kann und darf, daß die Völker dieser Erde zusammenwachsen müssen, wenn sie überleben wollen. Wird die Dritte Welt erkennen, daß sie ohne uns nicht existieren kann. Werden wir erkennen, daß wir nicht leben können ohne diese Dritte Welt.
Werden wir eine Sternstunde haben und nutzen? oder ist sie am Ende schon ungenutzt vorübergegangen im Frühjahr, als wir die Warnungen der Araber einfach überhört haben.
Frieden auf Erden ist uns verheißen. Aber verstehen wir das Wort Frieden überhaupt richtig? Verwechseln wir nicht vielleicht Frieden mit Waffenstillstand?
Die Israelis haben ihren Frieden nicht gewonnen. Waren sie „guten Willens“ oder vielleicht auch berauscht von sich selbst?
Und die Araber? Treiben sie nicht vielleicht Europa und Japan zu Alternativen, deren Konsequenz für Sie Enttäuschung, Armut und Verzweifelung ist? Nicht nur für sie, sondern nach und nach für die gesamte Dritte Welt?
Worauf gehen wir zu?
Was erwarten wir?
Was wünschen wir?
Für unseren kleinen Bereich ist das schon etwas leichter zu beantworten. Vollens, wenn ich sagen soll, was ich Ihnen wünschen möchte: Ich möchte Sie befreit wissen von allen Lasten, die Ihnen das Leben, so wie es nun einmal ist, aufbürdet. Ich möchte, daß Sie die Bürden, die sie freiwillig tragen, noch lange tragen können. Ich möchte, daß Glück des Lächelns niemals vermissen, besonders nicht das, mit dem ein Erkennender seinem Lehrer dankt. Ich möchte, daß Sie immer dankbar sein können für Ihr Leben, Ihre Person, Ihre Geschichte, Ihre Gegenwart, Ihre Freiheit, Ihr Wissen, Ihre Bindungen.
Ich wünsche Ihnen das Glück der Hoffnung auf eine persönliche Vollendung, in der uns all das geschenkt wird, was uns fehlt.
Fehlt an uns selbst und an dem Frieden, der und verkündet wurde, der aber noch immer nicht verwirklicht ist.
Überlassen wir uns also für eine kleine Weile der Idylle, wie die Männer und Frauen, die vom Feld kamen, um nachzusehen quod verbum, quod factum est, und die dann wieder an ihre Arbeit zurückkehrten, weil für sie wie für uns das Leben weitergeht.
Ist dieser Brief allzu elegisch für ein Fest? Dann verzeihen Sie bitte. Meine Stimmung mag daher kommen, daß ich fühle, wir stünden vor einer Entscheidung und ich könne nichts daran tun. Nur denken und wünschen.
Es geht uns aber allen wohl und wir wünschen, daß auch Sie ein schönes Fest feiern dürfen. Für einen Moment einmal ohne Sorgen.


Gruß

 

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