Nach Zeitraum suchen

von 
bis 
SUCHE ZEITRAUM

Brief (Transkript)

Marie Louise P. aus Zittau an Oskar H. nach Meckenheim am 19.09.1954

 

Zittau, den 19. Sept. 1954.
[Straße und Hausnummer]

Liebe Frau Anneliese, lieber Oskar,
Ihr lieber Brief vom 13 . ds. kam am Freitag hier an, und ich habe ihn sofort meinem Schwager gezeigt. Er und seine Frau haben sich die Angelegenheit nochmals überlegt; an sich, wird sich ein Brief meines Schwagers mit dem Ihren gekreuzt haben, er hatte den Brief durch einen Amtsbruder in Hamelm zur Post bringen lassen. – Zunächst, kann ich nur nochmals sagen, wie tief dankbar wir Ihnen sind, nicht nur ich., für die Freundlichkeit und Liebe die Sie alle unserem Gottfried und mir gezeigt haben, sondern auch für die Mühe, die Sie sich für Andreas gegeben haben. Zuerst hatte mein Schwager gedacht, den Grossen noch etwa ein Vierteljahr hier zu lassen; es stellt sich aber heraus, daß dies wahrscheinlich nicht tunlich ist.* Da der junge Mensch nicht der FDJ angehört ( leider ohne daß er bei der Jungen Gemeinde noch wäre,) ist ihm fast alles verschlossen. Infolge der kommenden Wahlen ist mit einer Verschärfung der Verfolgungen aller anders Denkenden zu rechnen; Andreas ist schon so verbittert, daß man für seinen Charakter fürchten muss, wenn dies noch lange so weiter geht. Er ist normal begabt, nichts besonderes. Innerlich wahrscheinlich viel weicher als Gottfried, hat er schon jahrelang diese Weichheit durch möglichst borstiges Wesen zu verbergen gesucht. Ich kenne ähnliche Dinge von meinem älteren Bruder, der einen tiefe Weichheit durch Ironie zu verdecken suchte. Andreas hat zunächst hier noch keine Arbeit gefunden; der Versuch, in Hirschfelde zu arbeiten misslang, insofern, als erst ein Gesuch nach Dresden eingereicht werden musste. Ich halte es für das Beste, wenn er so bald wie möglich in andere Ungebung kommt, und natürlich nicht Ferien hat, sondern ordentlich arbeiten und etwas lernen kann. Muss natürlich so weit wie möglich auf eigenen Füssen stehen.
Wenn es Ihnen, liebe Frau Anneliese, wirklich nicht zu viel is, und auch für Oskar keine zu grosse Belastung bringt, möchte ich Sie bitten, meinem Schwager und Andreas zu erlauben, am kommenden Montag, den 27. Sept. bei Ihnen zu erscheinen. Sie würden mit demselben Zuge in Braunschweig ankommen, mit dem wir damals ankommen wollten, so egegen 3 Uhr Nachmittags, hoffentlich ohne Verspätung; sie werden dann mit dem nächsten Zuge, ( den wir von hier aus nicht feststellen können,) nach Hildesheim weiter reisen. Ich sende diesen Brief morgen früh als Eilbrief ab, damit Sie noch Zeit haben, abzutelegraphiern, wenn es Ihnen nicht paßt. Mein Schwager könnte bei den Verwandten seiner Sekretärin in Hildesheim unterkommen, braucht Ihnen also nicht zur Last zu fallen; ich selbst hielte es für das Beste, allerdings auch das, was Ihnen am meisten Mühe macht, wenn Sie es so einrichteten, auf ein oder zwei Nächte, wir Sie es mit Gottfried und mit gemacht haben. Ich nehme an, daß mein Schwager doch den vollen Dienstag bleiben muss, ev. falls er Herrn D. und andere nicht gleich sprechen kann, den Mittwoch noch; er hat dann beruflich nach Hannover zu fahren, und wird von dort die Rückreise antreten. Aus den verschiedensten Gründen halten wir es für richtig, daß Andreas’ Vater selbst mit Ihnen, Herrn D. und anderen spricht; es ist brieflich zu schwierig zu erledigen. – Natürlich wäre ein Wohnen von Andreas nur für ein paar Nächte zuzumuten, und bei meinem Schwager nicht unbedingt nötig; die Sorge um die jungen Menschen, - in diesem Falle um einen Besondern, - macht uns zu Bittstellern, und Ihre grosse Güte, und das Mütterliche und Väter.iche Ihrer Familie gibt mir den Mut dazu. Für Andreas kommt im Augenblick, seinem Alter ( 17 ein halb) wohl mehr der Einfluss eines Mannes als einer Frau in Frage. das ist aber nicht unbedingt der Fall. Wir alle, mein Schwager, meine Schwester und ich, wären Ihnen ausserordentlich dankbar, wenn Sie uns diesen grossen Gefallen erweisen könnten und wollten. – Ihre Bemerkung, daß sich auch in Ihren persönlichen Verhältnissen eine Änderung oder eine Schwierigkeit anbahnt, macht mich besorgt, und ich hoffe, nicht nur, daß sich alles bald und glücklich lösen möge, sondern auch daß wir nicht durch unser Ansinnen solche Zustände noch verschlimmert haben. – Über den Katholikentag in Fulda haben wir hier nichts gehört oder gelesen auuser den ganz nichtssagenden Phrasen, die in unseren Blätter über solche Tagungen veröffentlicht werden. Ob sich starke Gegensätze zwischen Ost und West herausgestellt haben, entzieht sich meiner Kenntnis, ist aber als zum Mindesten sehr möglich anzusehen. – Sie fragen auch, ob Ich nach meinem Besuche solche Gegensätze bestätigen kann oder nicht; das ist nicht leicht zu beantworten. Zunächst, rein äusserlich, ja; bei Ihnen, die Strassen, auch die in den ländlichen Gegenden wie Fromhausen, und Osterholz-Scharmbeck, in einem durchaus guten Zusatande. (Als ich dies dem Sohn meiner Freundin, dem Hauptmann Townend in Verden, gegenüber bemerkte, meinte er, er fände auch die Reichsautobahn in nicht zu gutem Zustand, - er sollte nur mal unsere Strassen sehen.) Sodann die Gebäude; Zittau hat ja kaum durch unmittelbare Kriegseinwirkungen gelitten; etwa 50 Häuser, teils durch Fahrlässigkeit und Wassermangel, sind halb und ganz zerstört worden. Etwa drei oder vier sind neu aufgebaut worden, die Trümmerhaufen jetzt in der Hauptsache weggeräumt. Aber sonst; alle Häuser sehen vernachlässigt aus, und sind es auch. Wir haben etwa im April dieses jahres einen Baumeister damit beauftragt, die Rückwand, die Wetterseite, unseres Hauses, auszubessern; er besah es sich und sagte zu. Musste dann die Zusage zurückziehen, weil für Privataufträge keine Materialien bereitgestellt werden. Zwei Untermieter klagten über ihre Öfen, mit Recht, denn es sind vernünftige Leute, die nicht unnötig schikanieren; ein anderer bat, die Küche streichen zu lassen; beide Aufträge wurden, auch schon im April vergeben; beide konnten bisher wegen Materialschwierigkeiten nicht ausgeführt werden. In den Zeitungen steht dann, die bösen Hauswirte lassen nichts vorrichten. Und so ist es überall. Ein Gang von dem Bahnhof bis zur Weinau würde Ihnen die Haare zu Berge stehen lassen. – Und so wie es mit den Häusern und Strassen ist, genau so ist es mit den Menschen, Verwahrlost, grau, trüben Auges, ägnstlichen Blickes. Frieder S., jetzt etwa 28 Jahre alt, der inder vergangenen Woche hier viel mit Behörden zu tun hatte ( an sich arbeitet er, als Dipl. ing. in Köln. ) war ausser sich über die Gesichter, die er überall zu sehen kam. Vergrämt, missmutig, hämisch, übelwollend, grausam, - alle deise schönen Eigenschaften in bunter und wechselnder Mischung Das ist auch kein Wunder, denn wenn man nur das Materielle predigt, und nur immer sagt, Du darfst deinen Nächsten verleumden, soviel wie du willst; du darfst und sollst lügen, so oft und so viel du willst; du sollst deinem Nächsten alles wegnehmen, was er hat, und was du gern haben möchtest, irgend ein Vorwand wird sich wohl finden; du brauchst das menschliche Leben nicht irgend wie zu achten; bei Kindern vielleicht, die ja mit der Zeit arbeiten sollen; auch bei den Arbeitern, die jetzt Werktätige heissen, solange sie sehr jung und kräftig sind; den jugendlichen Werktätigen ist alles zu geben, - Geld und Schnaps und das Recht auf Felegelei, auf Mädchen, und was sie sonst noch wolen; die Frauen haben zu arbeiten wie die Männer; die Alten haben darüber dankbar zu sein, daß man sie nicht totschlägt (Schlagt die alten Rentner tot, Dann gibt es keine Wohnungsnot,) so lernen sie es in den staatlichen Kindergärten; aber man lässt die Alten lnagsam verhungern, denn die Preise steigen, und die sogenannten Preissenkungen bedeuten immer, daß die betreffende Ware an Menge oder Güte herabgesetzt wird. – Was die Alten anbelangt, so erhält der alte Dr. med R. Frauenarzt, jetzt etwa 83 Jahre alt, für sich und seine Frau 87 Mark Rente; ein kleuner Salatkopf kostet 15 Pf, eine Semmel 10 Pfg. Gas, Wasser, Kohlen und Licht sind bedeutend gestiegen. Der alte Dentist M., auch über die 80; erhält da er Witwer ist, noch weniger. (Ein alter Witwer kann ohne irgendwelche weibliche Hilfe meist nicht existieren.) Gerade die Ärzte, denen im Westen goldene Berge versprochen werden, wenn sie zu uns kämen, sollt so etwas wissen. – Hier darf keine Meinung geäussert werden, die nicht den Herren genehm ist; daß Kritiken an Einzelheiten veröffentlicht werden, hat nichts zu sagen. Der Druck, der auf die Menschen ausgeübt wird, ist furchtbar, und macht sie, unweigerlich, mit der Zeit zu Tieren. Von all dem habe ich im Westen nichts gesehen. Bin allerdings auch nicht mit Fabrikarbeitern zusammen gekommen, wohl aber mit bauern. Was man sah, was man las und hörte, liess darauf schliessen, daß der Lebenskampf. Der Existenzkampf, auch im Westen sehr schlimm und schwer ist, teilweise vielleicht noch schwerer als hier; wer sic hier dem Bösen ergibt, dem öffnen sich tatsächlich Tür und Tor. Man denke an die jungen Menschen; wenn sie alles mitmachen, wenn sie, aufrichtig oder nicht, sich von den Wahrheit der kommunistischen Lehren überzeugt erkläen, dann gibt man ihnen nicht nur die Genhmigung, weiter zu lernen, zu studieren, gute Stellungen zu erhalten, man gibt ihnen auch die Wohnung ( alte Leute werden irgendwohin in eine unheizbare Dachkammer g steckt) , man fördert sie in jeder Art und Weise; sagt sich, vielleicht mit Recht, daß es zunächst nichts ausmacht, ob sie in Wahrheit überzeugt sind oder nicht; sie machen jedenfalls mit, - dann müssen sie selbst die Propaganda betreiben, - dann vielleich einmal jemanden denunzieren, - und dann sind sie völlig in des Teufels Krallen. Man ist fast versucht, das wortwörtlich aufzufassen. Und man mache sich keine Illusionen; Die Lüge, die täglich wiederholt wird, die immer wieder eingeträufelt, oder eingehämmert wird, findet mit der ZeitEingang zu den Herzen und Hirnen aller Menschen, die nicht ganz fest stehen. Ich möchte hier, an den Katholikentag anknüpfend, fast sagem daß die Mitglieder der Röm.-Kath. Kirche hier noch eher zu Kompromissen neigen las die wenigen Protestanten, die wirklich noch Christen sind. Zahlmäßig, sind die Katholiken uns verhältnissmäßig über, ich meine, die Gottesdienste werden besser besucht, und die Austritte sind wohl seltener; allerdings urteilt man hier sehr nach dem Eindruck, da sämtliche Unterlagen fehlen. Aber sie halten als Erwachsene nicht sehr Stange, sie sind geneigt, das Kirchliche-Religiöse in ein Sonderfach zu verschliessen, und ihr Alltagsleben für sich zu behalten. – Wenn eine Einigung nicht bald kommt, dann kann es wohl sein, daß sie besser überhaupt nicht käme, ehe nicht diese Krankheit der Menschen überwunden ist. Denn es scheint doch, als gingen Krankheitswellen durch die Lande und Völker, - wie der Hexenwahn, oder die Weltflucht der Eremiten und Klausner. Das kann naürlich lange Zeit dauern. – Wie bei den Kindern Israel, müssen wir, wenigstens wir im Osten, vierzig Jahre in der Wüste wandeln, bis die schlimmen Lehren überwunden worden sind. – Daß man unter diesen Umständen die grösste Sorge für die Jugend hat, können Sie sich bestimmt vorstellen. Auch Gottfried wird es sehr schwer haben; schon jetzt sind alles ausser ihm in die FDJ eingetreten, - was das schadet, meinen Sie vielleicht? Du sollst nicht sitzen auf der Bank der Spötter, - und, wie gesagt, sie sind schlau, sie verstehen es, den jungen Menschen zu fangen, - erst durch Schwimmen oder Photographie, - dann mal mitgehen und „Aufklären“, - dann einen Bericht über das Aufklären geben, - und dann ist der Denunziant fertig, der nur schwer wieder zurück kann. Ich nehme an, daß auch seine Tage, hier auf der Oberschule, gezählt sein werden. Aber das hat noch Zeit.
Dr. P. hat wohl nur eine interimistische Tätigkeit; die Mentalität der Flüchtlinge ist schwer zu ertragen, wenn sie auch vielleicht an sich verständlich ist; mein Mann hofft sehr, daß P. mit der Zeit irgendwie in Ihren Kreis grät, denn Mr. Pr., wie auch ich haben grossen Vertrauen zu Ihrem guten Willen.
Frau K. kommt heute Nachmittag zu uns, ich füge einige Zeilen bei, falls es nötig ist, denn ich kann den Brief erst morgen früh als Eilbrief aufgeben. – Andreas’ Vater hat Telefon.Nr. 2787, sodaßeine Depesche telefonisch durchgesagt werden könnte. –
Unser guter Freund S. hat die Heimat nicht wieder gesehen, er liegt in Höxter, wo seine ältere Tochter wohnt, begraben; seine Frau will hier wohnen bleiben, ihr Sohn Frieder war deshalb hier, und hat an ihrer Statt die Formalitäten erledigt, denn gegen einen energischen jungen Mann aus dem Westen wagen sie nicht, so vorzugehen, wie sie es einer alleinstehenden alten Frau gegenüber tun. Mit ihm und P. sind meines Mannes letzte Freunde gegangen; es ist schlimm, so einsam zu sein. Ich habe es ja so gut, da ich meine Kinder habe, - zur Zeit, einschliesslich von etwas 15 Erwachsenen, an die 60 Kinder. Das ist zwar anstrengend, aber doch eine grosse Freude. Ich versuche ja, jedem Kinde wenigstens etwas Liebe zu geben, denn das entbehren sie sehr. – Für heute will ich diesen überlangen Brief beenden, - falls nicht Paul’s Frau irgend etwas sagen lässt. Ich denke nur zu gern an die chönen Stunden zurück; und daß der Hundertjährige Rosenstock neu treibt, das gibt mir grosse Freude und Trost. – Yours, my dear, with all love and gratitude,

M. P.

Wegen P. hat sich nur ergeben, dass er bis zum 15.10. beschäftigt ist.

*(Die Gefahr der kasernierten Polizei + des Uranbergbaus in Aue ist nie ganz ausser Acht zu lassen)

 

top