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Brief (Transkript)

Hans an Eugen am 16.8.1940 (3.2002.0211)

 

Rouen, den 16.8.1940



Lieber Eugen!

Es ist wieder höchste Zeit, daß ich ‘Bericht erstatte’. Bevor wir die (Ver)sammlung eröffnen, bitte ich den hohen Rat der unsichtbaren und uns umgebenden Geisterwesen, aufzustehen und zu der lang erwarteten Geburt des ‘Feldwebels’ in kraftvolle Heilrufe auszubrechen! Eviva! Du wirst Dich wohl, (wie ich es tun würde) am meisten auch über die Gehaltserhöhung freuen. ‘Es fließe reich-lich!’ mein Finale zu den Wunschfugen, die heute zu Dir, meinetwegen mit der Donau, herüberrauschen. Um im Bilde zu bleiben, hier vor meinem Fenster fließt Seinewasser vorbei. - Ich lebe in griechischer Genügsamkeit,- bin außer Verpflegung und muß mich selbst verpflegen, was ich auch herzlich gern tue, gibt’s dann doch zwei Marken pro Tag. Aber der Nachschub von der Kompanie fließt dünne.
Ich sitze hier so weit vom Schuß, jeden Tag, wenn ich für einige Stunden Zeit finde, sehe ich ins Paradies: Alle französischen Zeichnungen sind hier zu haben, selbst einen Millet-Katalog will mir der Antiquar heute zeigen; das ist übrigens der Mann unter den Franzosen, den ich nicht beurteilen kann. Er hat eine gründliche Kenntnis unserer Literatur, Kunst und Musik, aber noch eine ungleich erstaunlichere des Deutschen. Es ist gut, daß ich auf ihn stieß und nun die Ergebnisse von vier Monaten unter den Franzosen an diesem Steine wetzen kann. So manche Ein= und Ansicht konnte ich da in dreistündiger angeregter Unterhaltung (er spricht ein verblüffend schönes Deutsch) erproben. Sein Gespräch ist sehr feinfühlig und behutsam. Ich spüre, wie alles unterbaut und tiefgründig ist, mit allen Sinnen aufgenommen, was er sagt. Was er nicht weiß, (es ist nicht viel) fragt er, und was er fragt, danach darf man sich eine Vorstellung zimmern, auf welche Weise er seine früheren Kenntnisse und Erkenntnisse gesammelt hat. Eines, was er mir ehrlich bestritt, ob die Franzosen uns haßten. „Nein“, sagte er, „und wenn sie es tun, wirkt es kindlich albern.“ Allerdings sei der Franzose zum Haß fähig und mehr zur tiefsten überhaupt denkbaren Empörung noch wie jetzt Italien gegenüber, das er perfid nannte. Hatte er, wie uns gesagt wird, Revanchegelüste? - Wie sieht er die Ruinen dieser Stadt? Nein, der Franzose ist (vielleicht) leider auf dem Standpunkte, wo er am meisten wünscht: Laßt mich in Ruhe arbeiten. Laßt mir meine Verfassung und meine Regierungsform, - die Verantwortung für mein Wohl und Wehe! - Ich fresse selber aus, was ich eingebrockt, was ich immer mir einbrocken werde. Ganz ähnlich sagte er. Dann: „Sie sind der zweite Deutsche in meinem Laden, der nicht dieselben Vokabeln sagt.“ (Dieser Beweis allerdings für eine schon frühere Annahme des Franzosen spricht für sich.) Ein Buch hat er mit den kostbarsten Holzschnitten geschmückt für nur 90 Mark, einen Kölner Druck der Nachfolge Christi, und einen köstlichen Schnitt (Maria mit dem Kinde) für 25 Mark. Einiges will er nicht verkaufen, so z. B. frühe Ital. Initialen, feine Rötelzeichnungen, seltsame Stiche, die er bei der Flucht unter den Arm nahm und aufs Land ging. Als die Truppen eintrafen, nahm ein Landser im Vorübergehen aus einem zerbrochenen Fenster ein altes Buch mit, ein Band von sechs Bänden, die zueinander gehörten. „Mein Herr, nehmen sie auch die anderen Bände, mit diesem allein können sie nichts beginnen,“ rief er hinter ihm her. Der Verdutzte gab ihm den Band zurück. Bei ihm erwarb ich einige Daumiers, ein ganz berühmtes Stück: Die Leute in der Eisenbahn. Ich will sehen, wo ich sie verstaue, es muß einfach gehen. Übrigens hat Millet viel und auf seine Weise von Daumier gelernt, was sich in mancher Einzelheit deutlich zeigt.
Gestern war Maria Himmelfahrt, das ist Matthias Claudius’ Geburtstag, der Hochzeitstag meiner Eltern und auch immer ein Festtag für mich. Nur einmal in fünf Jahren, im letzten, mußte ich die Tradition unterbrechen, dieses Fest in irgendeiner Dorfkirche zu begehen, so in Münster, Xanten, Augsburg, Köln und jetzt in Rouen. Der Erzbischof selbst assistierte beim Amt, ein alter, zerbrechlicher Mann mit allerdings sehr wohltönender Stimme. Gallia cantat. Dem Generalfeldmarschall Kluge soll er durch ein Handschreiben für die Errettung der Kathedrale gedankt haben. Ich erstand wieder in einem kleinen Buch mittelalterliche französische Fresken aus dem Papstpalast in Avignon, aus der Krypta der Eglise [...] und Clermont. Am meisten würde Dir wohl ein Totentanzfresko aus der Eglise [...] Freude machen und nicht nur des Themas wegen. Benno schrieb gestern aus dem Eichsfeld und sogar Dr.Speckmann ließ was von sich hören. Ich lese eben den ‘versiegelten Quell’, eine Auslegung des Hohen Liedes von Gregor von Nissa, - einfach kostbar in der Fülle herrlicher Bilder! Nebenbei lernt man auch ungeheuer. Ich schickte Dir gestern zwei Zeichnungen mit, die eine soll nichts anderes zeigen als das, wie die Häuser hier auf dem Lande aussehen, die andere ist mir persönlich einigermaßen wertvoll. Verzeih, wir hatten eine Pinkelpause, und in diesen Augenblicken hab ich stehenden Fußes, stante pede! den Kopf abgezeichnet, der mir ausnehmend gut gefiel im Original. Laß mich wenigstens, Du siehst nicht und hörst nur immer die Botschaft, auch einmal erwähnen, daß es hier und bis zum Meere, besonders in [...] und in der Gegend rundherum wunderschöne romanische Dorfkirchen gibt. Gestern im Hochamt im Dom, während ein Brief des Erzbischofs verlesen wurde, alles Trost für Flüchtlinge und vom Elend betroffene Familien und solche, deren Väter und Söhne Kriegsgefangene sind, flogen Tauben durch die Fenster der Kathedrale. Anbei ein erster Entwurf für den Stoff? zu einem grünen Meßgewand, die Fische weiß mit roter Zeichnung auf grünem Untergrund, die Streifen ebenfalls weiß und die Ringe gold. Das Lied, das Du anstimmst, singe ich gern. Ab und zu scheint auch Hoffnung auf Heimkehr und auf Urlaub zu bestehen, aber was Positives hört man nicht. Wenn, dann mit Jubel kommen wir zurück und bringen ihre Gaben heim.
Vorerst viele Grüße in Geduld herzlich
Dein Hans

 

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