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Brief (Transkript)

Hans an Eugen im Oktober 1941 (3.2002.0211)

 

Rußland im Oktober 1941



Lieber Eugen

Nicht nur winterlich kalt ist es hier bereits, seit vorgestern fällt auch schon Schnee, und da wir viel Zeit haben, stellen wir uns vor, wie es hier wohl in einem Monat aussehen mag. Den Morgen über und des Abends umsitzem wir Chrysostomas warmen Kamin. Nur im Mittag verschwinden wir, um Portionen zu fassen und den frühen Nachmittag zu einem Gang durch die Stadt. Heute sind auch drei Wochen her, seit ich die letzte Post bekam - seitdem schweigt die Umwelt für mich - ich bin lebendig begraben. Ich weiß nicht, ob Du schon in ähnlicher Situation warst. Die Unruhe läßt einen zu nichts kommen und diese unglückliche Lage kennzeichnet am besten, daß ich schon nichts Gescheiteres mehr ausfindig zu machen weiß, als unserem Kater ranzige Butter um die Schnauze zu schmieren und mich dran zu ergötzen, wie das betrogene Tier sie wieder von sich zu lecken sucht. Nun sind zu meiner Freude aber Katzenzungen nicht sehr lang, sodaß sie auch mit der Tatze arbeiten muß, und das sieht dann wirklich putzig aus. Ach nein-! Den Hund lasse ich auch nicht mehr zur Ruhe kommen, die Sonja und die Galina schon lange nicht mehr. Der Galina habe ich heute die Puppe unter die Zimmerdecke gehängt, und wütend schimpft sie mich.’Pertuch’(Haken) oder gar ‘Bick’ (Ochse) und ich gab ihr eifrig ‘Kuriza’(Huhn) und ‘Karover’(Huhn) zurück - Oder ich gehe zu dem Stolz des Hauses, der einzigen Kuh, die jetzt am Tage nur noch vier Liter Milch gibt und versuche, sie zu hypnotisieren. Das fußbodenbraune Biest sieht mich immer so trostlos blöd und traurig an, daß ich bald darauf zum Pferde gehe und es in die Weichen kitzle. Das ist ein männlicherer Sport als Rindvieh-Hypnose, denn der Bock schlägt ordentlich aus. So versammle ich also viele Sünden und Untaten auf meinem Haupt aus Langeweile, (die es bislang in meinem Leben einfach nicht gab). Aus Langeweile holte ich mir von der Frau des Hauptmanns Gustav Schwabes ‘Schildbürgerstreiche’- man kann nicht immer ein NT, in Augustins Nachtgedanken und in Gedichten lesen, versteht sich. Eine Sorge: Hätte ich Schnaps hier, ganz gewöhnlichen Sprit - nicht um ihn zu saufen, (so weit bin ich noch nicht) sondern um - Ikonen dafür einzutauschen. Sieh, es war da ein Arbeiter, welcher mir Eier für Schnaps, auch Miot (Honig) oder Naschka (Butter) geben wollte. Ich bot ihm Rubel - er zuckte mit den Achseln. Wenn ich Schnaps hätte und ihm Schnaps gäbe, ob er mir dann seine Ikone gäbe? Nach kurzem Bedenken sagte er: “Ja - und er hätte zwei Ikonen.“ Wieviel Schnaps? „Einen Liter,“ - war die Antwort. Dann ging er leise vor sich (Wodka) hinsummend und sich unter Seufzen am Klang und der Vorstellung von Wodka berauschend. Mein Augenmerk warf ich auf eine sehr kleine, aber ganz ‘klassische’ Ikone, wohl Nowgoroder Arbeit: Das dunkle und wunderschön ausdrucksvolle Gesicht der Mutter Gottes und ein weniger gelungenes Christkindgesicht. Das Christkind auf meiner bäuerlichen eigenen Ikone ist 100mal schöner als das Gesicht der Mutter Gottes! Aber es wird wohl kaum gelingen. Hätte ich Schnappes! Ohne Schnaps und Tabak bekommt man zudem nichts. Geld ist Dreck, wie bei Landsern so auch bei den Russen. Immerhin benötigt man diesen Dreck. 10 Mark füge ich bei - ich spreche ja die Bitte (und ‘wenn es möglich wäre und nicht lästig’!) um etwas weißes und elfenbeinfarbiges Ingres aus. Papier. Worauf soll ich meine Mutter, Deine Mutter, meinen Vater, Eure Margret, Dich und mich zeichnen! Ich hab soviel Fettigkeit und Rosigkeit in der Visage - das muß unbedingt festgehalten werden. Anima pro posteris! Au Backe! Bei nächster Gelegenheit von Neuem 10 Mark - ich komme doch vor Kriegsende hier nicht weg und kann erst bei der Kompanie durch Postanweisung schicken. Du bist wohl so gut und bemerkst es im Brief, wenn es angekommen ist. Allerdings, leider kann ich erst mehr schicken, wenn wir wieder bei der Kompanie sind. Hier nämlich bekomme ich kein Geld ausgezahlt. Von der Kompanie könnte ich dann aber gleich einen Haufen losmachen. Du, die neu erfundene Aufteilung der Menschen in Juden und Arier hat doch ihr Gutes. Die Juden benehmen sich kläglich. Alte Greise ziehen vor uns jungen Sprintern hier untertänigst die Mütze. Pfui, das ist charakterlos. Auch die Knechtschaft soll man würdig tragen - übrigens, ich suche hier die Bekanntschaft einer uralten Lehrerin. Staune - nicht ihrer fatalen Schönheit wegen - sie ist häßlicher als häßlich - nein, sondern sie spricht gut Deutsch. Hat in Petersburg Kunstgeschichte studiert und ‘liebt leidenschaftlich’ die Ikonen. Ich muß mir das junge Mädchen aus der Zarenzeit mal näher ansehen. Die Sowjets haben sie zu einer einfachen Elementarlehrerin degradiert. Sie ist nett wie eine alte schäbige Kasperlepuppe, aber ich schwöre Dir - ich bin nicht verliebt in sie. Wie wollte ich auch! Distanz! Eben erzählte man hier, Deutsche Truppen liegen vor Moskau. Ob es wahr ist? Wir hören und sehen ja nichts, gar nichts und schlafen nachts mit entsicherter Knarre am Bett. Es sind hier sehr sehr viel Partisanen und die Luft daher mulmig. Unsere Quartiersleute sind Fabelwesen, sie, stark wie zwei Männer mittlerer Kraft, spielt Klampfe, Balalaika, singt wie ein Mädchen, kocht gut und malt, zwar naiv, aber gar nicht übel und gern. Zudem erzog sie ihre Kinder gut und ist sehr fleißig - er ist ebenfalls voll Musik, unglaublich fleißig , treuherzig, doch klug und sehr lustig. Ich bin hier gut gelitten, heiße ‘Wanja’, bei den Kindern ‘Wonka’ und sie, die nicht leicht zärtlich wird, wenn sie es aber ist, so hat das eine gewisse Anmut - sie nennt mich ab und zu sogar ‘Wanuschka’ - das will was heißen. Wir machen fast jeden Abend Musik - Am liebten hört sie ein Liebesliedchen, das fälschlich immer Bach zugeschrieben wird, im Notenbüchlein für seine Frau steht, die Aria Giovannini, ‘willst du dein Herz mir schenken’, muß ich ihr auch mal vorspielen - singen kann man ihn gut, aber Pallietra kann beides. Ich freue mich bei einer eventuellen Heimkehr auf Vieles, auf Dein Gesicht zum Beispiel. Überhaupt, wenn Du die Ikonen siehst, im Besonderen aber ganz bestimmt auf die Musik, die wir machen, und vor allem, die wir uns bei Pallietra und in Essen oder Recklinghausen usw. anhören werden - Bach, Mozart und Gluck, den ich noch viel zu wenig kenne.Leider haben wir kein Radio - die Mozartsendungen verpassen wir so alle. Habe nur Angst, daß die Johannes- und Matthäus-Passion nirgendwo mehr aufgeführt werden. Meine Bauern-Ikone! Sie steht immer vor mir oder hängt über dem Kopfende. Sie ist so arm als nur irgendein Bild arm sein kann und von dem Reiz einer Handzeichnung. Du wirst sie sehen. Sie ist nicht einmal so groß wie eine Postkarte. Und das Thema ‘Mann mit Bart’ auf der Straße! Überhaupt die männliche Bevölkerung vom Lande! Sicut erat in principio! Ich muß Dir alles mal mündlich schildern. In einer Rede vom hohen Olymp hätte es geheißen, der Krieg sei in Rußland noch in diesem Jahr zu Ende. ‘Nach Hause, nach Hause, nach Hause laßt uns gehen!’ Heil Dir und frohe Wünsche hunderttausend
Dein Hans

 

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