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Brief (Transkript)

Hans an Eugen am 28.10.1941 (3.2002.0211)

 

Rußland, 28. Oktober 1941



Lieber Eugen

5 Wochen sind heute herum, seit die letzte Nachricht aus dem Reiche zu uns kam - die Kompanie hat mir seitdem überhaupt keine Post mehr zukommen lassen - ich denke an die Ernte, wenn ich zu meinem Haufen zurückfahre. Es ging inzwischen aber manche Nachricht zu Dir ab. Allein, ich bin nicht sicher, ob Briefe alle erreicht. Mein Adju gab die Briefe immer fremden Einheiten mit, ab und zu auch der in postalischer Beziehung allzu großzügigen Infanterie. Von Bedeutung hat sich nichts hier schon seit langem ereignet. Diese späten Herbsttage haben es eilig mit dem bißchen Helligkeit oder gar Sonne. Gegen 5 Uhr zündet man bereits die Petroleumlampe an. Kaffee und Abendbrot werden zusammengelegt verzehrt. Und dann lese ich wohl im griechischen Evangelium Johannes, das Beste und Dankbarste, das ich in meiner Lage und wohl überhaupt tun kann. Die anderen Evangelien kann man ruhig deutsch lesen - vielleicht den Markus ausgenommen, meine ich, da versagt schon bei den Worten und Begriffen ‘Liebe’ oder ‘Welt’ unser ausgeleiertes Sprachempfinden. [...] oder wir schreiben musizieren gelegentlich auch. Schon gegen 8 geht es ins Bett und dann ist Ruhe bis morgens 1/2 7. Sjurka, die an die Tür klopft! ‘Wanka’! Und wenn ich nicht gleich antworte: ’Wanuschka’hinterher! Aber was leisten wir am Tage! - Seit Montag ist auch der Kriegspfarrer fort. Schon der dritte, seit unserem Einzuge hier. Er war aus Emden und ein Mann mit ungeheuren Nervenstränge (er meinte, er sei wohl zum Episcopus geeignet, und das sagte er so norddeutsch selbsverständlich, daß ich’s wohl glaubte). Die Übersetzung in einen echten Seebär wäre kinderleicht, hätte er die traditionellen Stoppeln in seinem grobfleischigen Gesicht geduldet. Eine urgesunde Natur, auch äußerlich an meinen Schmachtendorfer Onkel erinnernd, nur viel gelehrter und mehr in der Welt herumgekommen. Die Gespräche, die wir führten, hatten Niveau und waren vielseitig und bunt. Er wußte wundervolle Dinge aus dem christlichen Altertum und hatte ein fabelhaftes Organ für gewachsene Liturgie. Hatte dabei Die Möhler, Dreier, Geiger, Hirscher, Seiler und Diepenbrock gern und gab mir manchen guten Fingerzeig, auch über mystische Fragen und Bücher. Er wußte, wo die 7 fetten Jahre in der Kirche Gottes ihren geheimen Schatz und Lagerhäuser haben! Nun er fort ist, bin ich wieder allein. Wie einsam es hier sein kann! - Der Pfarrer kam unvermittelt einmal darauf, als wir durch’s Fenster seines Stübchen sahen - es war ein Gespräch, eine Atempause - und ins Nichts sahen, über öde dunkle Brandstätten hinweg. Hinzu kommt die fatale Unsicherheit unserer Lage - unserer ganz persönlichen besonders. Wie ich einmal um Metersbreite an zwei Gewehreinschlägen vorbeikomme, will ich Dir lieber mündlich erzählen. Es graut mir ordentlich, wenn ich’s bedenke. Das überhaupt noch leben, kommt mir vor wie ein Theodorum? und ich will nicht nur mit Worten dankbar sein, wenn uns dieses Menschen und Leben fressende Ungeheuer Rußland noch einmal mit heilen Knochen und gesundem Kopf entläßt. Der Anblick bestialisch verstümmelter Leichen, die denselben Rock tragen wie Du, schneidet sich in die ganze Vorstellungswelt ein, die Dich hier umgibt. - Aber auch die starren Gesichter der Erhängten. Das in die Grubestürzen der Erschossenen - Bilder dunkler als das dunkelste des Goya - ach, Eugen, das vegißt man nie, wenn’s man auch möchte. Und neben dem, was es gewiß gibt, nimmt es Dir auch von unserer Unbekümmertheit und dem anderen viel und gibt uns etwas von der gehetzten Kreatur, von erbärmlich armen Menschen überhaupt. Es sind irgendwie alles Selbstbildnisse, die hier am Wege liegen und so ihr Leben ließen oder es noch tragen, wie man sich auch selbst wiederfindet in denen, die da in den Evangelien, geplagt von diesem und jenem, am Wege sitzen, bis der Erlöser kommt. Kein Gedicht fand ich noch, das alles das faßt, was hier geschieht - es muß wohl manches auf ewig ungesagt bleiben, aufgespart für die Stunde, wo es den Menschen ganz unmittelbar überkommt. Du spürst hier täglich: Es ist etwas, das sich nicht in die Kunst hinein gibt und vor jeder Verklärung flieht, was dunkel, ja finster und rätselvoll bleibt, was jedem Zugriff von Wort, Ton und Linie entgleitet und nur im Gebet gefaßt wird, in der Furcht Gottes und der Angsst vor dem Letzten, das uns bevorsteht, wenn wir bleiben, wie wir sind. Sieh, bei uns gab es früher so Schatten, feine und feinster, und nichts trat nackt und krass vor uns hin wie hier, wo Licht oder Finsternis ist, nicht dieses Schwimmende dazwischen. Ich weiß, daß es gut ist für uns, so in alles hineingestellt zu werden - in alles! - mag sich unser Alter gerade hier noch so bürgerliche Kleider umtun - aber ich sehne mich doch zum Westen, nicht zuletzt auch um zu warnen in der Art und Weise, die uns ansteht, vor den Voraussetzungen, die es dann hernach so weit kommen lassen - Es ist hier keine Schönheit möglich, keine Stille, und keine Milde, heurig ist nur der Schrecken und endlich das Grauen (was ist hier die sternlose Nacht!) Gewiß gibt es auch hier so etwas wie das gewöhnliche Leben, so seicht oder bunt sogar, aber es ist ein kleiner Teil des Ganzen. Das Gewöhnliche ist gemein, das Ungewöhnliche grausam. Das, was dazwischen steht, ist der heitere Tag, ist weder das, was man bei uns die Antike in der Schule darstellt (war sie so?) vivat scola! - die harmlose. Man sollte dort mehr Schildbürgerstreiche lesen und überhaupt täglich eine Stunde betrachten, wie man gelassener werden möchte. Nicht dumpf und stumpf oder schrecklich naiv, wie fast 90% der Menschen, die einem täglich zu Gesichte kommen, - den Blinden des Breugel und Daumier ähnlich - die Harmlosen, ‘die sehen und doch nicht sehen’, wie auch wir manche Tage. - Ich habe mich ein zweites Mal gezeichnet, bin etwas älter geraten als ich aussehe (so sagt man hier), als Zeichnung wohl gut und dürfte Dein nihil obstat, was das Zeichnen anbelangt, bekommen. Leider habe ich kein Fixativ hier und so geht der feinste Schimmer, das eigentliche Fest der Augen, völlig verloren. Denke Dir, es ist mit einem französischen Bleistift Nr.4 gezeichnet - wirkt wie Silberstift, so fein und fast metalliös. Heute habe ich die Frau des russischen Offiziers gebeten, sich zeichnen zu lassen. Bei gewissen Lichtern sieht ihr Gesicht aus wie ein unendlich trauriges Spiel, dann wieder wie die Güte und Zartheit selbst, auf die der Hagel fiel - und dies, das Mütterliche werde ich einzufangen suchen. Die Umstände sind ziemlich ungünstig, viel Lärm von vielen Kleinkindern, die Hunger haben - Johannes würde so schreiben: Wenn der Herr das sähe [...] c’est la guerre, sagt der Bürger achselzuckend, wer kann da helfen. Ich grüße Dich fest und herzhaft
Dein Hans

 

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