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Brief (Transkript)

Erika D. aus Bad Salzuflen an Annegret S. nach Ost-Berlin am 23.09.1990

 

23.9.90

Meine liebe Anne!

Heute am 29.9. will ich weitermachen, es ist so turbulent bei uns, Besuch, wir selber unterwegs und meine 11 Einheiten Arbeit a 4 Std müssen auch verarbeitet werden. Ja, die offene Grenze bringt nun doch mal die Mitteldeutschen, denen wir jahrelang nur Besuche machen konnten zur Gegenleistung. Die Verwandten kommen mal für 1 Tag von Weimar oder Frankenberg oder bleiben länger, die Freunde sind auch öfter da – schön für uns, alle die schönen Gastfreundschaften im eigenen Revier zu erwidern. Du wirst es ja auch mal wieder schaffen, hoffe ich!
Bei Tine waren wir vor 14 Tagen, Jürgen ist 50 geworden, leider bekamen wir wenig mit von der Stehparty, die ab 11.00 lief, weil ich bis 16.00 gearbeitet habe, dann die meisten Leute weg waren und nur noch Nachbarn da waren. Nun haben wir am 7.10. für Uli Stehparty zum 56. und unser Festchen ist erst im November, weil alle erstmal die Termine abstimmen müssen.
Den 3.10. werden wir mit einer Flasche Schampus begießen – Schweres kommt auf uns alle zu und da ist das leichte Getränk zur Aufheiterung ganz gut.
Dein langer Brief barg ja allerhand an massiven Sachen – hat Horst nun alles „auf die Reihe gebracht“, wie man hier in Lippe so sagt oder konnte er die Kur nicht antreten? Und der Erhängte in der Dienststelle – was waren die Hintergründe? Stasi – Angst – persönliches Mißgeschick? Sicher geht es vielen so, aber gleich an den Haken? Da kann ich mir Euer Gruseln in der Dienststelle schon vorstellen. – Übrigens zieht die Schwester von Teddy (Teddy + Bine aus Stuttgart) aus Rostock in eines Euerer 3 Hochhäuser – sie beschrieb es so, als ob sie in Dein Haus einzieht. Schwimmbad gegenüber, 20 Min Bahn zur Innenstadt – ich hatte ihr Deine Adresse gegeben und Ihr gesagt, daß Du Dich in Berlin gut auskennst, Kultur + Kunst Dich besonders interessieren. Sie ist Junggesellin, hat an der Uni in Rostock ein Wohnheim geleitet und ist jetzt Rentnerin wie Du, falls sie sich mal meldet, weißt Du Bescheid. Sie ist lebhaft und unternehmungslustig, fährt nach Australien, um ihre Schwester zu besuchen und ist dort schon ½ Jahr (über die Wende) gewesen. –
Heute kommt Besuch von Uli’s Schulkameradin aus Weimar, Apothekerin, alleinerziehende Mutter mit verheiratetem Freund und großem Sohn, der in Berlin ist, mal sehen, was sie zu berichten hat. –
Wie gehts mit Deiner Dienststelle weiter, alles wird ganz schön hinweggerafft und leider liegt noch eine Agonie über dem Land – 40 Jahre Vorschriftsdenken und die alten Kader – das dauert, ehe da was floriert. Doch wir sind froh, daß es endlich wieder ein Deutschland gibt und dafür sind die Opfer zu bringen, es war der letzte Point, sonst wäre alles in Scherben (in Anlehnung an das Nazilied – bis alles in Scherben fallt) es sind tatsächlich auch dies noch die Auswirkungen des unseeligen 3. Reiches!, für das wir alle bezahlen müssen und für die Irrlehre des Herrn Marx, die als Dogma nur Unterdrückung und Böses für Millionen gebracht hat – was jetzt alles so an die Oberfläche kommt – Anne, Du glaubst garnicht, wie sehr ich immer wieder die Bestätigung unserer Flucht 1961 finde. –
So, dies mal heute nur ganz kurz, ich muß noch Treppe wischen, bügeln, eine Hose

umnähen und einkaufen. Ulrich kommt 13.45, da muß das Essen auf dem Tisch stehen. Der Brief geht gleich mit zur Post. Sei lieb gegrüßt –

ich hoffe, daß es Dir und allen aus der Familie einigermaßen geht! Ist Carle denn nicht schon selbständig? Er hatte doch schon alles so klar geplant?

Unser Freund Kasimir hat in Weimar ein florierendes Architekturunternehmen aufgezogen. Auch das Geld rollt ohne Kreditaufnahme! Da freuen wir uns sehr! Also, tschüss für

heute und laß mal von Dir hören. Frau S. hat nichts verlauten lassen!
In alter Verbundenheit Deine Pimpinella.

 

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