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Brief (Transkript)

Erika D. aus Bochum an Annegret S. nach Ost-Berlin am 24.08.1961

 

Bochum, 24.8.1961

Meine liebe Anne!

Du hast es ja schon an der Adresse gesehen, daß wir unseren Wohnsitz gewechselt haben und wahrscheinlich auch an unserem langen Schweigen. Es sind tolle Tage, die nun hinter uns liegen und hier bei den Schwiegereltern verschnaufen wir erst mal und stecken unsere Fühler nach einer neuen Existenz aus. Ich bin ja so froh, daß wir nun endlich hier sind und wir noch vor dem 13.8. mit [einem] blauen Augen davongekommen sind. Sehr froh bin ich auch, daß wir uns noch getroffen haben und Du den kleinen Jörg kennengelernt hast.
Doch laß Dir nun der Reihe nach berichten, Du wirst sicher sehr gespannt darauf sein. Am 15. Juli kam Uli von seinen Eltern zurück, ging den 1. Tag in den Betrieb und sagte abends, daß es endgültig los ging. Na, Du kannst Dir ja vorstellen, wie ich mich über diese Worte freute, wenn auch viel Sorgen damit verbunden waren. Als Termin hatten wir ursprünglich den 10.8. vorgesehen, aber angesichts der angespannten Lage wurde der 27.7. zum Stichtag. Was wir in den 14 Tagen geschuftet haben und was für Ängste wir ausgestanden haben, kannst Du Dir ja sicher vorstellen. Ich habe etwa 50 Päckchen und Pakete fortgebracht, außerdem die ganze Wäsche und uns lieb gewordene Sachen (Kunstgewerbe). Auch Bücher wurden größtenteils gerettet, das Radio Kinderbett + Wanne verkauft und bei Nacht fortgeschafft. In den letzten 3 Tagen war bei uns Nachtbetrieb bis 12 h, ich wundere mich, daß Keinem das aufgefallen ist. Meine Schneiderin nähte mir noch innerhalb von 3 Tagen ein komplett, ich hatte ihr etwas von einer Hochzeit in Leipzig vorgeschwindelt!! Kurz bevor ich am 27.8. zum Bahnhof ging, holte ich es noch bügelwarm ab! Mit Artistengepäck, Koffer, Seesack, Kinderwagen und Schnurri zog ich dann zum Bahnhof und fuhr in Richtung Berlin mit Fahrkarte nach Buckow. Eine Freundin aus Apolda, ebenfalls mit gleicher Marschausrüstung, fuhr mit, der Zug sehr voll, in unserem Abteil 2 brüllende Kinder außer unserem braven Schnurris. Ab Halle ging die Kontrolle los, jeder einzelne wurde ins Kreuzverhör genommen und bei Bedarf auseinandergenommen und in Schönefeld rausgesetzt. Na, mir ging ja die Düse und ich hatte mächtigen Dampf. Bärbel und ich führen für 4 Wochen zu einer gemeinsamen Tante nach Buckow, die Tante existierte garnicht, nur eine fremde Adresse hatten wir, es waren die Eltern einer Arbeitskollegin von Uli. Als dann die beiden Bonzen kamen, war ich wieder ganz ruhig und gefaßt und tischte mit Unschuldsblick meine Geschichte auf. Was dann kam, glich einem Kreuzverhör im Dampfbad, ich war aber außerlich eiskalt und behauptete mein Recht. Nun, man wollte uns nicht glauben, wir sollten aussteigen und wieder zurückfahren. Ich tat machtig empört und erzählte, daß ich mit dem Kinde doch keine unnotigen Strapazen auf mich nehmen würde, außerdem sollen sie ruhig einen Beamten mitschicken, der alles kontrollieren sollte. Auch hätte ich extra gewartet, bis der Kirchentag vorbei war, um nicht zurückgeschickt zu werden. Bärbel sagte Gottlob nichts, sie war nicht so eingespielt wie ich und hätte sich noch verplappert. Nach vielen Hin und Her gab er uns doch die Passe zurück und sagte nur hämisch, daß wir uns am Ostbahnhof noch sprechen würden. Na, ich atmete erstmal auf und betrachtete die 1. Hürde als genommen. Allerdings schwitzte ich von Schönefeld bis Ostbf. noch tüchtig Angst, es war aber alles Bluff!! Wir machten, daß wir davonkamen mit Sack + Pack. Gegen 13.00 waren wir am Ostbf. von dort bis Friedrichstr. --> U-Bahn bis Wedding, dort wieder S-Bahn bis Friedenau zu meiner Tante und Bärbel nach Schmargendorf zu ihrer Tante. In der U-Bahn war keine Kontrolle, uns fielen zentnerweise die Steine vom Herzen, als wir im Westsektor waren. Die Schlepperei mit den beiden Kinderwagen, Koffern und Taschen über die vielen Treppen und die Aufregung bei der Kontrolle waren so anstrengend, daß ich mindestens 1,5 kg an 1 Tag abgenommen habe. Und so geschwindelt hatte ich auch noch nicht an 1 Tag. – Man lernt alles in der Not. – Nun wartete wir beide auf unsere Männer, Wolfgang ist ein Arbeits + Studienkollege von Uli, die beide von Erfurt aus geflogen sind. Bei ihnen ging alles glatt und abends ½ 9 waren wir alle am verabredeten Treffpunkt. Das war eine große Freude, es erstmal so weit geschafft zu haben. Meine Tante hatte uns so früh noch garnicht erwartet, war aber auch froh, daß es noch so gut geklappt hatte. Wenn sie meinen Koffer durchsucht hätten, wäre ich mit 500.- und dem ganzen Silber aber dran gewesen! Am nächsten Tag meldeten wir uns in Marienfelde, aber da wir privat wohnten, wurde es nicht so schlimm für uns, als wenn wir dort im Lager hätten hausen mussen. Es war sagenhaft, was da am Tage ankam, und vor allem auch, mit was für Massen an Gepäck und Kindern. Die Ansteherei und Lauferei von einer Instanz zur anderen war gerade zu ertragen und nach 5 Tagen, am 2. August wurden wir ausgeflogen. Der Flug verlief herrlich glatt + schnell, 25 min. bis Hannover, von dort mußten wir nochmal ins Lager Friedland für 1 ½ Tage, dort wurde das Notaufnahmeverfahren endgültig abgeschlossen und am 4. konnten wir losziehen. Die 2 Nächte verbrachten wir in einem Zimmer mit insgesamt 12 Personen, Männlein + Weiblein, Kind + Kegel, in Doppelstockbetten. Ich war froh, als ich mit Schnurri wieder an der frischen Luft war. Den Instanzenweg konnte Uli alleine gehen, ich zog mit Jörg ins Kinderhaus, wo ich gleich einen weißen Kittel bekam und helfen durfte. Dafür bekam ich schöne neue Sachen für den Dicken. Die Betreuung dort in dem Lager war sehr gut, jeder wurde 1x neu mit Wäsche, Strümpfen und Kleid oder Rock + Bluse eingekleidet, außerdem konnte man sich aus Spendensachen noch einiges raussuchen, was ich auch mit Erfolg tat. Uli fuhr dann schon am 3. nachts nach Massen, bei Unna in Nordrhein-Westfalen, wohin wir uns einweisen ließen und von dort zu seinen Eltern weiter. Ich fuhr am nachsten Morgen zu meinen Eltern, überall war große Freude, dass nun alle beisammen sind. Meine Eltern fuhren gerade zur Kur und ich durfte meine beiden Brüder hüten, bez. nach 3 Tagen ins Zeltlager schicken. 1 ½ Wochen blieb ich in Gemünden, für dann mit Jörg zu den Großeltern nach Wolfenbüttel, die sich über ihren 1. Urenkel sehr freuten. Mein Großvater ist schon 90 Jahre alt, aber so gut beisammen, es ist erstaunlich. Auch die Oma ist schon 86, läuft noch wie ein Wiesel. Seit 6 Jahren hatte ich sie nicht gesehen, da gabs viel zu erzählen. Am 15. war ich dann hier in Bochum, um Uli und meinen Schwiegervater zu versorgen. Meine „Schwiemu“ ist noch bis Sonnabend in Bad Ischl. Der dicke Spatz Jörg hat alle Strapazen gut überstanden, wir nennen ihn nur noch den „Weltreisenden“, weil er schon soviel rumgegondelt ist. Nun sitzen wir erstmal alle 3 hier und lassen uns erst etwas „Westluft“ um die Nase wehen. Uli bemüht sich um Arbeit, seit gestern ist er nach Oberbayern unterwegs, um sich in Hohenpeißenberg (bei München) vorzustellen. Vielleicht klappt es, eine Wohnung wäre dort vorhanden. Auch ich habe hier schon Fühler ausgestreckt, es lohnte sich hier, zu arbeiten, da ich 650.- brutto in meinem Beruf verdienen konnte. Außerdem ist es Mangelware! Hier in Bochum konnte ich ab Januar in ein Institut für Landschaftsschutz (Phytopathologie) einsteigen, ich war mich schon vorstellen. Wenn Uli aber nach Obb. geht, werde ich ja doch dort irgendwo etw. suchen müssen. Mein alter Chef aus Jena ist in Freising und sucht auch wieder eine TA, er schrieb mir neulich. Ich bin sehr gespannt, wie es weiter geht, aber doch sehr optimistisch. Unser Schnurri bleibt vorläufig bei den Großeltern, vor der Trennung graut mir zwar schon, aber die 1-2 Jahre muß es gehen und dann sind wir wieder fit. Und die Ollerchen freuen sich schon riesig, daß sie den Süßen hier haben können. Uli ist auch ein bißchen traurig, daß er seine „dicke Wurst“ nicht immer bei sich haben kann. – Aber bis jetzt ist noch nicht alles entschieden, wir werden erst mal sehen. – Ich bin bald am Ende, es strengt ganz schön an, so eine lange Epistel zu schreiben. Nur eine Bitte habe ich, vielleicht ist es Dir möglich sie zu erfüllen. Wenn Du wieder in Leipzig bist, versuche doch mal, bei OM eine Abschrift von meiner Beurteilung zu bekommen, möglichst auf Kopfpapier. Die 1. habe ich nicht mehr, es ist alles dort geblieben. Bitte, schreibe mir auch die Adresse von Ute, vielleicht kommen wir mal dort in die Nähe, ich will ihr auch mal wieder schreiben. Anschließend will ich auch noch an T. schreiben und sie hierher einladen. – In Berlin muß ja jetzt einiges los sein, was man so im Radio hört. Hoffentlich geht alles gut aus; jeder zittert vor einem neuen Krieg. Nun ja, in 50 Jahren ist alles vorbei und wir sitzen dann mit Wackelköpfen und klöhnen von den aufregenden Zeiten anno 1961. Denk an die Zeilen im Gästebuch, wir lassen uns nicht unterkriegen! Wenn Du heim schreibst, schicke Deiner Mutti den Brief mit und grüße sie recht herzlich von uns. Mit ganz lieben Grüßen und Gedanken an Dich
Deine Sim [?]
Falls Fehler drin sind, sieh darüber hinweg, ich habe es nicht noch einmal durchgelesen.

 

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