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Brief (Transkript)

Erika D. aus Schieder an Annegret S. nach Ost-Berlin am 19.06.1962

 

Schieder, 19.6.1962

Meine liebe Anne!

Ich fürchte fast, Dich unter der letzten Adresse nicht mehr zu erreichen, solange habe ich mit dem Schreiben gewartet. Der Geist ist willig und gedacht war der Brief schon lange fertig. Inzwischen bin ich mit Jörg endgültig von Bochum weggezogen mit einer Riesenfuhre Gepäck, daß sich in der kurzen Zeit angesammelt hatte. Ab 1.6. wohnen wir nun endlich wieder zusammen in einer ganz herrlichen 3-Zi.Wohnung mit Kü.-Bad-Balkon. Du kannst Dir ja vorstellen, wie wir es genießen! Zumal ja alles in neuem Glanze erstrahlt, Wohnung wie auch Möbel ect. pp. Die Umgebung hier ist auch ganz herrlich, 3 Schritte aus dem Haus und wir sind im Wald. Auch ein herrliches Bad ist 5 min. entfernt, wir waren jetzt jeden Tag baden. Jörg allerdings nicht, er ist wasserscheu und brüllt wie am Spieß, wenn er nur mit den Zehenspitzen hineingetaucht wird. In seiner Badewanne planscht er wie ein Wilder, aber im Freibad reißt er aus. Von wem er das nur hat?
Nächste Woche muß ich noch 5 Tage arbeiten, es fällt mir richtig schwer, wieder in den Kohlenpott zurückzufahren, aber das Geld muß ja verdient sein. Ich hoffe, daß im Dienst alles gut mit meiner Nachfolgerin gelaufen ist, denn ich habe keine Lust, irgendwelche Schnitzer auszubaden.
Mit dem „Kulturleben“ sieht es hier sehr schlecht auch, 2x Kino in der Woche, meist großer Mist, Theater und Konzerte müssen wir uns vorerst verkneifen, solange der fahrbare Untersatz (in 4 Jahren!!) noch nicht da ist. In Bochum habe ich doch noch ganz schön Theater + Konzert mitgenommen. Das Theater ist sehr sehr gut, aber nur Schauspiel, auch das Orchester brachte in der jetzigen Spielzeit hervorragende Konzerte mit ersten Solisten. So hörten wir auch Wanda Wilkomirska, die in der DDR ja auch auftritt. Es freut mich für Dich, daß Du in B. auch viel in dieser Richtung unternimmst, es gibt doch in dieser Zeit so wenig Erfreuliches, da tut so etwas ja geradezu not.
Wie geht es denn Deinen Lieben zu Hause, was macht Karle? Hoffentlich ist er nicht bei den Grenzern, es wäre nicht gerade zu wünschen. Wie geht es denn Hannelott? Hoffentlich klappt wenigstens noch die Telefonverbindung! Wie lange noch? Es sieht ja von hier auch auch in dieser Beziehung nicht rosig aus, vor allem ist man hier sehr gleichgültig diesen Problemen gegenüber und denkt nur an sein dickes Portemonnaie. Ich muß dann immer an die chinesische Plastik mit den 3 Tugenden denken. Na, laß Dich nicht ganz davon verdrießen, solange wir leben, hoffen wir ja doch und das ist ja schon ein Leben wert, finde ich.
Hast Du mal in Leipzig Gerda und OM aufgesucht? Ich wäre neugierig, wie Gerda sich entwickelt hat. Du weißt ja, in welcher Richtung. Hast Du mal was von Maria und von Gisela gehört? Es ist alles schon so weit weg, aber es waren herrliche Zeiten! Die Abende mit dem Sauerkrautsalat!!! Der Katzengestank in Gerdas Bude.
Liebe Anne, bleib recht munter trotz allem und sei ganz lieb und herzlich von uns Dreien gegrüßt
Deine Erika

 

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