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Brief (Transkript)

Gerhard D. aus Brandenburg/Havel an Bruno W. nach Bochum am 26.08.1989

 

Brandenburg den 26.8.89

Liebe Rosemarie, lieber Bruno!

Die DDR-Briefmarkenausstellung in Magdeburg ist Anlaß, daß ich mich nun endlich fasse, um meine Briefschulden zu erledigen. Herzlichen Dank für Eure beiden Karten aus Italien und den KB-Brief vom 9.7. Es ist alles angekommen. Der Brief war natürlich geöffnet, aber der Hinweis auf unsere „Betonköpfe“, so Bruno’s Sprachschöpfung wird hier vorerst nichts bewegen, wie Ihr ja aus Euren Nachrichten erst heute entnehmen konntet als Eurer Fernsehen einen Bericht des „Neuen Deutschland“ kommentierte.
Was uns betrifft, so ist die Familie D. noch beisammen. Thorsten ist mit seiner Freundin in diesem Jahr an der Ostsee in Kühlungsborn gewesen, konnte also nicht in den Sog der Fluchthysterie geraten. Auch Stefan war mit Frau und Kind an der Ostsee in Wustrow und ist dieses Wochenende zurückgekommen. Henry verlebt hier in Brandenburg seine letzten Ferientage und Carsten ist zur Zeit bis 4.9. auf Urlaub bei uns. Er ist der Einzige, bei dem sich Veränderungen ergeben haben. Bisher war er in Potsdam stationiert, konnte also auf den „Sprung“ mal schnell nach Hause kommen bzw. hatte die Angenehmlichkeiten einer Bezirksstadt, die beim Stadtausgang ja einiges zu bieten hat. Nun wurde er nach Wittenburg einer Kleinstadt westlich von Schwerin mit ungünstigen Bahnverbindungen. Na ja, das eine Jahr wird er auch noch schaffen.
Was die zur Zeit grassierende Fluchtwelle anbelangt, so kann ich Euch nur mitteilen, daß sie ein Ausdruck der immer schwierigen Situation in der DDR ist. Sicher sind die Motive bei den verschiedenen Leuten je nach Alter unterschiedlich, sie lassen sich jedoch auf folgende Komplexe zusammenfassen
- Hoffnungslosigkeit
Ich kenne keinen, der in absehbarer Zeit einer Besserung oder einen Wandel prognostizieren kann. Ich selbst erwarte ihn erst in ca 5 bis 6 Jahren wenn ein Generationswechsel im ZK eintreten wird
- Wachsende Probleme im Alltag und auf der Arbeitsstelle.
An den ständigen Mangel, heute fehlt dies und morgen das im Angebot, hat sich der Bürger ja in den 40 Jahren bereits eingestellt. Obwohl das ja manchmal mächtig „wurmt“. Neuerdings gibt es auch im verstärkten Maße Schwierigkeiten mit der Situation am Arbeitsplatz hervorgerufen durch Personal- oder Materialmangel. Der Mensch braucht aber auch Erfolgserlebnisse, wenn er sich zu den Versorgungsschwierigkeiten in seinem häuslichen Alltag nun auch noch 8 Stunden auf der Arbeitsstelle täglich ärgern muß, so ist dies nicht erbauend
- Die Verlegenheit der eigenen Politik
Täglich kann er in der Zeitung oder im DDR-Fernsehen (wenn er es überhaupt tut) erfahren, daß alle Pläne übererfüllt und große wissenschaftliche Leistungen vollbracht wurden, aber trotzdem gibt es nicht mehr in den Läden. Während die Nazis von uns nur gefordert haben die „Schnauze zu halten“ wird heute von ihm ein positive Haltung mit entsprechender zustimmender Deklamation und Lobhudelei erwartet.
- Die zunehmende Korruption und Notwendigkeit ‚Beziehungen zu haben’ bzw. Schmiergelder zu zahlen.
Auf Grund des allgemeinen Mangels läuft vieles nicht ohne entsprechende Beziehungen ab. Ein hier kursierendes Sprichwort sagt: „Wer keine Beziehungen hat, hat selber Schuld“. Ich glaube die DDR ist das einzigste Land, wo ein Wagen, der 20000 km gefahren wurde, unter der Hand zum Neupreis verkauft wird. Ursache: Mangelndes Angebot und horrende Preise für den neuen Wartburg bzw. die anderen Wagen, die importiert werden

- Die Erfahrung, daß der eigene Staat seine eigenen Bürger wie Sklaven behandelt.
Was muß ein Arbeiter empfinden, wenn er erfährt, daß die ins Land geholten Vietnamesen ein Teil ihres Arbeitslohnes in Westgeld bekommt. Oder das die vielen Polen sich besser stehen, als die DDR-Bürger sie können nach West-Berlin bzw. Westdeutschland und kräftig schieben und er nicht! Es kommt hinzu, daß dann in fast allen Städten der DDR beide Volksgruppen einen schwunghaften illegalen Handel treiben mit den Sachen, die hier Mangelware bzw. nicht im Angebot sind. Außer einem Schild worauf zu lesen ist, daß der illegale Handel verboten ist, passiert den Leuten nichts.
- Abenteuerlust
Natürlich wird insbesondere bei jungen Menschen der Wunsch vorhanden sein auch ohne staatliche Reglementierung ins westliche Ausland zu fahren. Eie Aussicht, die er hier haben wird.
Die Aufzählung ließe sich noch ergänzen, ich will an dieser Stelle aufhören, denn es bringt nichts. Selbst der Mann von der Staatssicherheit, der diese Zeilen kontrolliert, wird, wenn er ehrlich ist, sich innerlich sagen müssen, ja es ist so, aber ändern können wir es nicht.
Ich will hoffen, daß ich meine letzten Jahre bis zur Rente gesund und munter über die Runden bringe und dann können mich alle mal „gerne“ haben. Nur eines weiß ich, es werden die schwersten und bittersten meines Lebens werden. Dann werde ich meine „Arbeit“ in unserem Garten haben und das bißchen Essen zum Leben werden wir schon bekommen. Sollte die Fleischversorgung bei uns noch schlechter werden als sie schon ist, dann werden wir uns wieder wie 1945 Kaninchen und Hühner halten. Wie haben den Krieg und die Nachkriegszeit überstanden und werden auch diese Bonzen überleben.
Aber nun zu Euch, hat denn Rosemarie’s Gesundheitszustand auf Grund der neuen Behandlung bzw. Erkenntnis sich durchgreifend verbessert? Wir hoffen es sehr. Auch Dir lieber Bruno wünschen wir viel Freude mit der Familie und wenig Ärger mit den neumodischen Dingen auf der Arbeit.
Bleibt beide gesund und munter und seid herzlichst gegrüßt
von Euren
Gerhard und Ilse

 

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