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Brief (Transkript)

Gerhard D. aus Brandenburg/Havel an Bruno W. nach Bochum am 17.10.1988

 

Brandenburg den 17.10.88

Lieber Bruno!

Heute möchte ich auf eine Frage von Dir aus Deinem letzten Brief beantworten, nämlich was ich von der Entwicklung in der SU halte. Zunächst bin ich sicher, daß Gorbatschow die besten Absichten und Vorsätze für sein Land hat. Ich nur nicht sicher ob er seine Gedanken auch durchsetzen kann.
Die Hoffnungen, die der Westen in diese Entwicklung setzt sind sicher übertrieben und unbegründet. Man sollte nicht vergessen, daß Gorbatschow weder eine westliche Demokratie noch den Kapitalismus einführt. Es ist jedoch für die ganze Welt sicher von Nutzen, daß er und seine Führungsmannschaft erkannt haben, vielleicht auch unter Wirkung von Tschernobyl, daß eine militärische Auseinandersetzung zwischen den beiden Systemen nicht machbar ist. Hinzukommt, daß die Rüstungsmittel der eigenen Wirtschaft fehlen und damit der Wettkampf der Systeme sich weiter zu Ungunsten der SU verschlechtert. Kommunisten verhandeln nur unter dem Druck der Realitäten und dem Klassengegner, daß darf man nicht vergessen! Bei allen Bemühungen, die durch die neue Politik von Gorbatschow in Gang gesetzt wurden, sollte man nicht vergessen, daß mit der Auswechselung von Köpfen, das System nicht effizienter wird. Ich selbst habe dazu noch die Befürchtungen, daß Gorbatschow eines Tages einen unnatürlichen plötzlichen Tod erleiden könnte. Die vielen Männer, die früher in einflußreichen Positionen waren, besitzen doch jeweils eine Hausmacht und man kann nicht voraussetzen, daß sie nun auf alles verzichten und nur Selbstkritik üben und Asche auf ihr Haupt streuen. Bisher sind alle Abweichler und Revisionisten von der geheiligten Ideologie immer zu Fall gebracht worden. Es wäre nur gut, wenn ich hier zu „schwarz“ sehe.
Hinsichtlich der wirtschaftlichen Entwicklung für den kleinen Mann, bin ich noch skeptischer. Es wird vielleicht dazu führen, daß bestimmte Grundnahrungsmittel immer vorhanden sind und jeder seine „Wattejacke“ kaufen kann, aber eine Versorgung und ein Angebot nach westlichen Vorstellungen läßt das System nicht zu. Erschwerend wird sich hier die Weite des Landes und die Nationalitätenfrage auswirken. Selbst wenn jetzt wieder private Handwerker zugelassen werden, wird dies keine wesentlichen Fortschritte bringen, denn die kleinkarierten Chefideologen haben ja in den 70-Jahren jede Infrastruktur zerstört. Der Handwerker benötigt Materialien, der Bauer außer Land Maschinen und Düngemittel, woher soll das kommen?
Auch bei uns werden in verstärktem Umfang private Handwerker zugelassen, deswegen ist die Materialdecke aber nicht größer geworden, das heißt den Kuchen (zum Beispiel Fliesen, Fußbodenbelag, Holz, Rohre, Bleche usw) müssen sich jetzt mehrere teilen. Also wird noch mehr geschoben und die Korruption nimmt weiter zu. Nach dem Motto, wer keine Beziehungen hat, ist selber schuld!
Ich bin selbst ja noch nicht in der SU gewesen und habe auch kein Verlangen jemals dorthin zu fahren, jedoch versäume ich keine Gelegenheit mich mit vielen Menschen verschiedener Couleur zu unterhalten. Interessant sind daher nicht die Meinungen der Touristen, die auf vorgeschriebenen Wegen und in bestimmte Städte reisen, sondern auch solche Erfahrungen der „Trassenhauer“, die trotz gewisser „Abschirmung“ in Gegenden kommen, die dem üblichen Tourismus ferngehalten werden. Da gibt es in den Regionen durchaus noch die Meinung: „Wir sind hier und Moskau ist weit“. Die bisherigen Zeilen lassen wenig Optimismus erkennen und ich will dazu noch eine für mich heitere Begebenheit hinzufügen. Von meinen eigenen Söhnen werde ich wegen meiner krassen Ablehnung all dessen, was von unserem „großen Bruder“ kommt, schon nicht mehr für „voll“ genommen und schlicht abgewiesen. Nun war unser Jüngster in der SU. Nach seiner Rückkehr mußte er mir jedoch bestätigen, daß ich mit meiner Zustandsanalyse vollkommen richtig lag. Es ist schlecht möglich, hier noch zusätzliche Fakten vorzutragen, wir sollten uns mal wieder mündlich unterhalten.
Da Honecker bisher seine Zusagen noch nicht in konkrete für Jedermann nachlesbare Verordnungen gekleidet hat, wird es weiter der Willkür des örtlichen Organs überlassen sein, ob einer zu Bekannten im Westen fahren darf oder nicht. Das heißt mit anderen Worten, wenn wir uns mal wieder unterhalten wollen, mußt Du oder besser müßt Ihr kommen, was ja Gott sei Dank möglich ist.
Damit bin ich bei den familiären Dingen angelangt, die nichts Neues vermelden. Zur Zeit ist alles gesund und munter und dies ist ja auch schon etwas wert.
In der Zwischenzeit müßte ein KB-Brief bei Dir angekommen sein.
Herzliche Grüße an die ganze Familie auch von Ilse, die nebenan die Wäsche plättet, sendet Dir

Dein Gerhard

 

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