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Brief (Transkript)

Gerhard D. aus Brandenburg/Havel an Bruno W. nach Bochum am 06.02.1990

 

Brandenburg den 6.2.90

Liebe Rosemarie, lieber Bruno!

Eine Beratung in Berlin – Buch werde ich dazu benutzen die Briefmarkenausgabe Bienen per Sonderstempel an Bruno abzuschicken. Was liegt näher als diesen Umstand für ein paar Zeilen auszunutzen.
Zunächst sei gesagt, daß unsere Familie noch beisammen, das heißt komplett in der DDR ist, was ja bei den bewegten Situationen fast verwunderlich ist.
Carsten hat nun durch die „Wende“ seinen Armeedienst verkürzen können und war glücklich am 26.1. seinen Koffer zu packen. Zur Zeit verlebt er eine Woche Urlaub in Jalta auf der Krim um seinen „Frust“ von der Armee abzubauen. Heike und Stefan die auch diesen Urlaubsplatz besorgt haben sind mit von der Partie. Das bedeutet, daß wir seit dem 3.2. den Markus bei uns haben. Da wir ihm zu dem Ortswechsel noch den fremden Kindergarten hier bei uns ersparen wollten haben Ilse 2 und ich drei Tage Urlaub genommen, damit immer einer mit ihm zu Hause sein kann. Bis jetzt hat er sich gut gehalten und kein Heimweh gezeigt. Wir wollen hoffen, daß der Rest der Woche ebenso verläuft. Henry pendelt wie bisher zwischen Schwerin und Brandenburg um einmal die Schule zu absolvieren und sich an den Wochenenden mit seiner Freundin zu amüsieren. In der nächsten Woche wollen beide nach Stuttgart und Tübingen fahren, dort hat seine Freundin einmal Bekannte und ihre Schwester. Der frisch vermählte Thorsten besucht uns mit oder ohne Frau von Zeit zu Zeit, aber von diesen beiden gibt es nichts Neues zu berichten. Heute hat sich seine Angela den Markus ausgeborgt, um ihm Hund, Schafe und Kaninchen ihrer Eltern zu zeigen und sich mit ihm zu beschäftigen, worüber Ilse und ich nicht böse sind. Ilse geht wie üblich ihrer Arbeit nach und kommt von Tag zu Tag mit pessimistischen Eindrücken und negativen Zukunftsaussichten aus dem Werk nach Hause. Im Gegensatz zu mir herrscht dort eine sehr gedrückte Stimmung unter den Kollegen, was wird aus dem Stahlwerk, denn jeder weiß um die Überproduktion bei Euch und den schlechten Zustand des Werkes und der fehlenden Wirtschaftlichkeit. Dann heißt es, dort sind 11 Leute einzusparen oder das Werk wird geschlossen usw. kurz die Gerüchteküche hat Hochkonjunktur. Ich versuche zu trösten, denn die zwei Jahre bis zur Rente werden wir auch überstehen. Trotz aller Turbulenzen halte ich meine Stellung für „krisensicher“ es sei denn ein Streit mit meinem Spinner von Ärztlichen Direktor ist unvermeintlich. Nach den neusten Diskussion will man ja auch bei uns für Männer ab 60.ten Lebensjahr auch den Vorruhestand einführen, das heißt für mich, daß ich bis zum Jahresende absolut zu „kuschen“ habe und dann kann er mich mal gerne haben. Mit 70% meines Nettoverdienstes werden wir auch nicht verhungern. Bei anderen DDR-Bürgern sieht das schon anders aus, mein Neffe wird auch ab Dezember arbeitslos ein ungewohnter Begriff für die DDR, da sein Kombinat aufgelöst wird. Dies passiert nun mit anderen Arbeitern ebenfalls und so ist es nicht verwunderlich, daß viele von ihnen den Koffer packen und sich bei Euch in Gießen als Übersiedler anmelden, denn die Gelder, die sie bei Euch erhalten, gestalten offensichtlich ein besseres Leben als bei uns. Leider vermisse ich bei der Regierung Kohl einen brauchbaren konkreten Fahrplan um dieses Deutsch-Deutsche Dilemma zu beseitigen. Da heute Euer Bundesbankpräsident Pöhl, ich hoffe der Titel ist richtig, mit unserer Wirtschaftsministerin Frau Luft verhandelt, möchte ich hoffen, daß dort etwas konkretes herauskommt. Das Wichtigste ist nach meiner Auffassung nicht die Wahl am 18.3., da wird hier in Brandenburg die SPD das Rennen machen, sondern eine schnelle Währungsunion, damit die Leute hier bleiben und sich für das mühselig unter widrigsten Umständen verdiente Geld etwas kaufen können. Die Politiker in der BRD reden zwar viel von der Zulassung von neuen Betrieben und Handwerkern ohne dabei zu berücksichtigen, daß der Handwerker überhaupt kein Material bekommt, um wirtschaftlich und sinnvoll arbeiten zu können von den Maschinen und den Gewerberäumen ganz zu schweigen. Es wäre für alle ganz anders auch wenn z. Beispiel ich für die Klinik weniger finanzielle Mittel zur Verfügung hätte, wenn wir in Westberlin oder in der BRD die Materialien kaufen könnten, die wir hier nicht erhalten. Es ist doch fast ein Schwachsinn, daß ich fast ein Jahr eine lumpige Keilriemenscheibe in [?] bestellt habe, ohne die Hoffnung zu haben, daß ich sie in diesem Jahr bekomme. Wenn ich nicht das Glück gehabt hätte, von einer anderen Wäscherei mir diese Keilriemenscheibe zu borgen, dann hätte bei uns in der Wäscherei eine teure Maschine solange gestanden. Dies ist nur ein Beispiel von vielen. Da in der DDR ca 5000 Getriebe für den Kleintransporter B1000 fehlen bin ich an mehreren Tagen kreuz und quer durch die DDR nach Leipzig, Karl-Marx-Stadt und Zossen gefahren, nur um unser Fahrzeug wieder flott zu bekommen. Dies ist aber der Zustand in der gesamten Wirtschaft und wenn nicht durch einen konkreten vielleicht auch etwas optimistischen Fahrplan hier wieder der Begriff Hoffnung am Horizont auftaucht, dann werden es weiter 2000 Leute pro Tag sein, die uns verlassen und die Krise verschärfen. Bei mir sind es von 69 Mitarbeitern bereits 6, bei den Schwestern sind es mittler Weile bereits 60 und das Ende ist noch nicht abzusehen.
Wenn ich da die Äußerungen von Norbert Blühm in der Sendung Talk im Turm am 4.2. in Sat1 oder den Rühe oder selbst Kohl höre, dann muß ich zweifeln, ob bei der CDU ein konkreter Fahrplan zur Beherrschung dieser Situation vorhanden ist.
Was meine Person anbelangt, so glaube ich, daß wir noch bis 1992 ein tiefes Tal durchwandern müssen aber im Endeffekt bin ich optimistisch, wichtig ist für uns alle nur, daß wir gesund und munter bleiben.
In diesem Sinne herzliche Grüße aus Brandenburg von
Euren Gerhard und Ilse


 

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