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Brief (Transkript)

Familie P. aus der DDR an Familie B. nach Stuttgart am 24.10.1989

 

[...], d. 24.10.89

Meine liebe Ingrid, lb. Jörg u. lb. Kinder!

Lange sollten Euch schon unsere Dankeszeilen erreichen – aber aber !!! Der Schreiber war faul u. nahm sich nicht die rechte Zeit dafür, aber heute sollen endlich meine Gedanken zu Papier gebracht werden. Viel hat sich in den letzten Wochen ereignet. Ein Ereignis jagte das andere.
Aber zuerst einmal vielen herzlichen Dank für Euren lb. Brief mit den schönen Bildern. Es hat so gut gepaßt, an dem Tag, als uns Eure lb. Zeilen erreichten, bekamen wir aus Lensahn Besuch (wißt Ihr noch, von dem Onkel hatten wir die Einladung) Natürlich habe ich den Brief vorgelesen, damit sie sich ein Bild von Euch machen konnten (außer den schönen Fotos) u. so meinten sie ganz ehrlich, ja man kann zwischen den Zeilen die Herzlichkeit erkennen. Und so verbrachten wir einen schönen gemeinsamen Nachmittag bei Kaffee u. Kuchen u. nach dem Abendbrot habe ich sie wieder zu den Verwandten gebracht, welche auch in [...] wohnen. Und eine Woche zuvor waren doch die Verwandten aus Speyer da, der Onkel mit seiner Tochter u. deren Tochter. Es hat ihnen glaube ich gut gefallen. Von Sonnabend bis die andere Woche Freitag waren sie bei uns zu Besuch. In Meißen, Leipzig u. im Erzgebirge (dort haben sie auch Bekannte) waren wir. Über viele Dinge waren sie natürlich auch enttäuscht. Sie meinten immer, ich brauche nicht jeden Tag frische Milch holen, ich solle ultrahocherhitze kaufen, aber diese gibt es ja nicht bei uns u. von heute auf morgen, wird bei uns halt die Milch sauer. Dann wollten sie ihr umgetauschtes Geld umsetzen, dies hat uns die größte Mühe gemacht, denn fast alles stand ihnen nicht an u. manches gab es eben absolut nicht, dies konnten sie auch nicht verstehen u. wohnen möchten sie halt auch nicht bei uns. Für uns ist dies alles zur Gewohnheit geworden, oder auch nicht mehr.
Wer hätte dies vor 14 Tagen gedacht – als wir vorige Woche unter den 120.000 Demonstranten in Leipzig waren, daß es nun gestern bereits 300.000 Menschen waren, die demonstrierten. Unvorstellbar ½ 4 waren wir in der Nicolaikirche u. um 5 war die Friedensandacht, wir kamen gerade noch hinein in die Kirche, worin 2.500 Menschen Platz finden. Den Menschen ist jetzt die Angst genommen, sie bekennen sich ehrlich dazu u. wollen Veränderungen in Politik u. Wirtschaft u. außerdem Reisefreiheiten. Noch sind wir ja eingesperrt, aber die Menschheit will es sich nicht mehr gefallen lassen. Sicherlich seid Ihr durch Presse + Funk schon über alles informiert. Eigentlich war ich in der Kirche etwas enttäuscht, vorwiegend Nichtchristen nehmen am Gottesdienst teil, sie können kein Vaterunser beten, kein Lied singen, wissen nicht, daß man in der Kirche eine Kollekte gibt, aber vielleicht finden so manche Menschen wieder zum Glauben. Z.Zt. steht die Kirche in einem guten Licht bei uns, waren sie doch die Gründer u. Aufrufer zur Umkehr.
Ja, meine lb. Ingrid, Du hast ja so recht – als Du in Deinem letzten Brief schriebst, so einfach liegen u. stehen lassen, da gehört schon eine ganze Portion Mut dazu. Obwohl ich immer glaube, daß wir nicht materiell besessen sind, aber irgendwie hängt man halt an allem, es ist unsere Heimat, unsere Verwandten, Freunde (außer Ihr) müßten wir dann verlassen, vielleicht wird es ja doch etwas anders. Wir dürfen eben die Hoffnung nicht aufgeben u. vielleicht dürfen wir auch mal reisen, ohne das wir Euch Lieben auf der Geldbörse liegen. Ich schreibe dies auch deshalb, weil ich für Ende Nov. eine Einladung nach Speyer zum 70. Geburtstag habe – nur für 5 Tage werde ich fahren u. dann rufe ich Euch mal an! Und so wünschen wir uns ganz sehr, daß Euer Besuch zu uns im nächsten Jahr nicht ausbleibt!!!
Meine Lieben, nun möchte ich doch noch mal von unserem vergangenen Urlaub von Balatonboglar näheres schreiben. Wir hatten sagenhaft schönes Wetter, nur 2x hat es nachts geregnet, ansonsten nur Sonne, es war herrlich. Wir bewohnten ein schönes, kleines altes Häuschen. Die Leute, denen es gehört wohnen in Budapest. Obwohl es im Garten u. Hof kaotisch zu ging (im Haus war alles schön sauber) fühlten wir uns wohl u. lebten sehr billig. Mit unseren Forint mußten wir wieder gut haushalten u. konnten unsere CSSR-Kronen noch zusätzlich in Forint tauschen. Aber wir haben oft gesagt, ach wenn jetzt B.s + S.s hier wären, es wäre zu schön gewesen. Jeden Tag haben wir Pfirsiche, Wein (in fester u. flüssiger Form) genossen. Alles in allem – wir waren wieder begeistert u. haben pro Person „nur“ 150 Ft. bezahlt, für Euch sicherlich ganz billig u. für uns erschwinglich. Denn in Szarzso hätten wir für unser ehemaliges Zimmer pro Person 220 Ft. bezahlen müssen. Besucht haben wir diese Ungarn auch, natürlich waren sie auch herzlich, aber beim Geld hört wahrscheinlich die Freundschaft auf, aber hoffentlich nicht die unsrige!!! Übrigens – den Leuten ihr ehemaliger Schwiegersohn aus Weißenfels ist auch über Ungarn nach Stuttgart geflüchtet.
Und nun muß ich auch Euch noch berichten, daß ich 1 Woche im Krankenhaus war zur Ausschabung der Gebärmutter, wegen laufenden Zwischenblutungen. Ich fühle mich eigentlich recht wohl u. gehe auch wieder arbeiten. Hoffentlich ist bei der Nachuntersuchung dann auch alles in Ordnung.
In diesem Jahr haben wir keine Chrysanthemen, ich bin froh darüber, nur ein paar für den Eigenbedarf.
Ivonne macht ab November die Fahrschule für’s Auto. Heute war sie anmelden u. Tino möchte sie im nächsten Jahr für’s Mofa machen. Ihr müßtet ihn mal sehen, wie groß er geworden ist – u. abgenabelt hat er sich außerdem von der Mutter u. Schuhgröße 43, wo Bernd nur die 42 hat.
Schön für Simone, daß es ihr so gut in ihrer Lehre gefällt u. sicherlich fühlt sich Martina in ihren eigenen 4 Wänden auch recht wohl. Und muß Andreas bald zum Bund? Und fahren die B.schen Auto noch flott? Der Bernd meint immer, so ein Wagen wäre auch von ihm ein Traum. Nachdem wir nun schon im Juni 15 Jahre für ein neues angemeldet waren, haben wir immer noch keine Aussichten. Na ja, unser 10-Jahre alter Wartburg muß schon noch ein paar Jährchen mitmachen. Lacht Ihr nun? Übrigens habe ich es schon mal geschrieben, unser Wartburg sieht jetzt rot aus. Der Bernd hat ihn wieder schön aufgemöbelt
Nun habe ich Euch wieder neues über uns geschrieben. Ach, dies müßt Ihr auch noch wissen, die Mutti wird nächste Woche 60, sie soll mit mir nach Speyer fahren, ich habe mir schon den Mund wund geredet (u. das soll was heißen, meint Bernd) aber sie kann den Vati nicht alleine lassen, obwohl er fast 61 ist.
In der Hoffnung, bald wieder von Euch etwas zu hören verbleiben wir mit ganz herzlichen Grüßen für die ganze Familie, eingeschlossen die Omi’s u. allen guten Wünschen

Eure
Margit, Bernd u. Kinder

 

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