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Brief (Transkript)

Max Lehmann an seine Ehefrau am 28.09.1914 (3.2002.9042)

 

Wylkowẏszki, Russland. 28. Sept. 1914.



Liebe gute Mama!
Wir haben heute einmal wieder Zeit u. vor allem habe ich Gelegenheit eine par Grüsse an Dich zu senden, der Marsch nach hierher war intensiv aber nicht andauernd. (3 Std.) und da ist man frischer; übrigens sind die Eindrücke aus dem letzten Quartier so nachhaltend, daß man immer noch daran zehrt (der Kost wegen, die Zigarren, den Hochgenuß, und Taback brachte.) Wir zogen in unser jetziges Quartier am Sonnabend um 7 Uhr ein und zwar in ein Kino (Du siehst also Kulturfortschritt.) Das Städtchen hat ca 4-5 Tsd. Einwohner, Holzbaracken, die Einwohner die zurückgeblieben fast ausschl. Juden, schmutzige Wohnungen erbärmlich kann man alles zusammen bezeichnen die Straßen sind gepflastert, aber welch ein Pflaster. Die Bürgersteige Holzbretter-Trottoir ziemlich verwahrlost – wie die Kleidung der Einwohner. Aber Geschäftsleute durch u durch, sie wissen jede Situation auszunützen.
Wir haben seit 3 Wochen fast nur Rind- und Hammelfleisch Mittags erhalten, und da freut man sich wenn es heißt: dort giebts Schweinebraten oder Gänsefleisch“ Einige Kameraden bestellten sich zum Mittag-Essen, Suppe, Fleisch, Rote-Rüben Compot. Aber als es hieß bezahlen wurde manch\' einem Kameraden das Essen leid (2 Mark für ein Essen, daß mit 80 Pf. reichlich bezahlt ist. Wir waren etwas praktischer: 2 Kam. auch hatten eine Gans gekauft und dieselbe kochen lassen, kam 2,70. und man hat auf einige Tage zum Früh- u Abendessen Etwas. - Schmalz, Butter giebt es nicht, aber 1 [...]. Honig habe ich ergattert, und gestern abend habe ich ein gutes Glas Thee getrunken (die Russen verstehen Thee zu bereiten.) Es wird auch Privat Kaffee gekocht und während die Mütter kochen, stehen die Kinder von 5 Uhr früh und machen den „Anreißer“. Damit haben sie sich verrechnet, denn wir erhalten von der Komp. besseren Kaffee als den man mit 5 ch[?] die Tasse bezahlen muß. Als wir am Sonnabend ¼ Stunde im Quart. waren, da hatten einige schon das Piano aufgespürt und Flöte und Klavier gab dem ganzen abend bis 10 Uhr ein rüstiges Stimmungsbild. Am Montag früh ½ 6 Uhr „Lobe den Herren“ Uebrigens war am Sonntag Nachmittag der erste Feldgottesdienst. Ein Unteroffz. v. 9. Rgt. hielt die Predigt, die nicht gerade allen Ansprüchen genügte, das beste war der Männergesang; und alls dann zum Gebet der Czacko[?] abgenommen, sah man so recht deutlich daß die Jahre nicht spurlos vorübergegangen. Eben wird auf dem Piano „Carmen“ mit Flötenbegleitung vom Stapel gelassen da erinnere ich mich, daß es in Berlin ein Opernhaus und an einem Abend „Emmy[?] Sertine[?]“ uns einen unvergeßlichen Genuß bereitete.
Wir haben jetzt das richtige Herbstwetter und so ist es mir nicht mehr möglich die Bewegung eines Kometen, im Sternbild der großen Bären weiter zu verfolgen; er ist bedeutend klarer sichtbar, besonders die Schweifbildung, als der Halley\'sche. Uebrigens hatte ich Gelegenheit am 21.8. eine partielle Sonnenfinsterniß durch die beräucherte Scheibe des Eisenbahnwagens zu beobachten.
Unter der Skizze des vorigen Quartiers bezeichne ich Dir den Standpunkt d. K.
Mir geht es ausgezeichnet, was nicht alle Kameraden behaupten können u. ich bin noch nie so zu versichtlich in Bezug auf meine Leistungsfähigkeit gewesen als jetzt, weshalb ich Dich recht kräftig an die Soldatenbrust drücke und Dich u die Kinder vielmals küsse
Euer Papa.
Der Zusatz der Adresse hat sich geändert s. Couvert.
Grüße alle die Lieben, Alle alle. Packete werden nicht befördert dann ware es praktischer i. Briefen zu schicken.

Untertitel Zeichnung:
Östlicher Kriegsschauplatz,
Quartier i Derczenki[kyrillisch]

 

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