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Brief (Transkript)

[?] aus Stuttgart an Horst H. nach Magdeburg am 23.02.1959

 

Stuttgart, den 23. Febr. 1959.

Sooft die Sonne aufersteht,
Erneuert sich mein Hoffen,
Und bleibet, bis sie untergeht,
Wie eine Blüte offen. (Keller).

Du mein Gedanke!
Da stehen offen vor mir, Deine Bilder, und es wird mir ganz warm ums Herz. Welche Freude Du mir damit bereitet hast, jedes von ihnen ist eine einzige Erklärung, eine einzige Offenbarung für mich. Komm und gib mir Deine Hände, sie sollen den Druck meines Dankes und noch viel mehr empfangen. Wann darf ich Dich wieder mit leiblichen Augen sehen?
Warum sollst Du mir nicht auch Deine Leiden nahebringen? Auch sie sind mein! O ihr Einsame, Sehende, mit den Menschen unsäglich Leidende, bedrückt durch das Bewusstsein, nicht Licht schaffen und erlösen zu können. Nie habt ihr vollen Trost darin finden können, durch das Wort auf die fein Organisierten zu wirken; wir wollen der menschlichen Kreatur helfen, die in selbstgeschaffenem Elend schmachtet.
- Die rohen Massen tun ihr Werk aus dumpfen Leidenschaften heraus, denen sie und die sie verkörpernden Staaten völlig untertan sind. Sie rasen gegeneinander in ihrem Wahn und treiben einander ins Unglück; aber sie vollbringen im grossen ganzen ihre Gräuel ohne inneren Zwiespalt. Die wenigen jedoch, die an dem rohen Fühlen der Massen nicht teilnehmen, sondern unbeeinflusst von Leidenschaften am Ideal der Menschenliebe hängen, tragen weit schwereres Los. Sie werden aus ihrer Gesellschaft ausgestossen und wie Aussätzige behandelt, wenn sie nicht Taten begehen, gegen die ihr Gewissen sich aufbäumt und feige verschweigen, was sie sehen und fühlen! Wir müssen oft schweigen, leiden, kämpfen und sollen aber trösten wie eine grosse Seele. In dieser für uns Europäer so beschämenden Zeit hat es sich gezeigt, das Athletik des Geistes nicht schützt gegen Kleinheit der Seele und barbarisches Empfinden. Ich glaube, dass edle menschliche Gesinnung in den Universitäten und Akademien nicht besser gedeiht als in den Arbeitsstätten des ungekannten stummen Mannes aus dem Volke. Wir sollten aber ein leuchtendes Vorbild sein; Gemeinschaft der einsamen Menschen, die immer sind gegen die Epidemie des Hasses, die in der alles umfassenden Menschenliebe ein erstes Ziel der moralischen Gesundung der Menschheit erstreben.

Mein Freund, gestern war ich in einem Klavierkonzert. Haas spielte Beethoven, Schumann, Debussy und Chopin. O unsterbliche Musik! Du, das Leben vergeht, Körper und Seele fliessen dahin gleich einem Strom. Die Jahre graben sich in das Holz des alternden Baumes. Die ganze Welt der Formen verbraucht und erneuert sich wieder. Du allein vergehst nicht, unsterbliche Musik. Du bist das Meer der Herzenstiefen. Du bist die innerste Seele, in deinen klaren Augen spiegelt sich das düstere Gesicht des Lebens nicht. Fern von Dir, gleich dem schwärmenden Gewölk, flieht der Zug der heissen, der kalten, der fiebernden Tage dahin, die die Sorge jagt, und die ohne Dauer sind. Du allein vergehst nicht. Du stehst ausserhalb der Welt. Du bist eine Welt für dich. Du hast deine Sonne, deine Gesetze, Flut und Ebbe. In dir ist der Frieden der Sterne, die durch das Feld der nächtlichen Räume ihre Lichtfurchen ziehen – silberne Pflugscharen, die die sichere Hand des unsichtbaren Hirten führt. – „Musik“, du milde, wie wohl tut dein Mondlicht den Augen, die vom scharfen Glanz der Sonne hier unten müde wurden! Die Seele, die das Leben kennt, wendet sich ab von der allgemeinen Prühe, in der die Menschen, wenn sie trinken wollen, den Schlamm mit ihren Füssen aufrühren; sie eilt an deinen Busen und saugt an deinen Brüsten den frischen Quell des Traumes. Musik, jungfräuliche Mutter, die alle Leidenschaften in ihrem unberührten Leibe trägt, die Gutes und Böses im See ihrer Augen birgt, in dem binsenfarbenen, dem blassgrünen Wasser, das von den Gletschern kommt – du stehst über dem Bösen, du stehst über dem Guten; wer sich zu dir flüchtet, lebt ausserhalb der Jahrhunderte; die Zahl seiner Tage wird sein wie ein einziger Tag; und der Tod, der alles zernagt, verliert seine Macht über ihn. – Musik, die du meine schlaftrunkene Seele wiegst, Musik, die mich von neuem fest, ruhig und froh gemacht hat – meine Liebe und mein Leben - , ich küsse deinen reinen Mund.

Horst – ich berge mein Gesicht in deinen Haaren, ich bette meine brennenden Lider in Deine weichen Hände.

Du – Du!


[schwer lesbarer Name].

 

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