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Brief (Transkript)

[?] aus Stuttgart an Horst H. nach Magdeburg am 02.06.1959

 

Stuttgart, den 2.6.59.

Dass wir aus Gottes Liebe die Freiheit
der Entscheidung haben, ist der Schlüssel
aller Geheimnisse.

Mein lieber Freund!
Die Macht, die der Mensch auf die Gestaltung seines Lebens, ausüben kann, wurde ihm vom Schöpfer verliehen und muss darum auch vor seinem Gesetz verantwortet werden. Im richtigen oder falschen Gebrauch der Freiheit, die aus dieser Macht resultiert, wird unser Dasein uns und unseren Mitmenschen zum Segen oder zum Unglück. Das Kriterium unserer Lebensführung sind darum die Früchte unseres Tuns. Und welchen Weg müssen wir gehen? Die Antwort kann nur diese sein: Die Erde uns untertan machen, doch nicht als Selbstzweck, sondern als Mittel zum Zweck; damit der Mensch werden kann, was Ziel ist seiner Bestimmung von Anfang an: ein Wesen des Lichtes, Durchdrungen von höherer Erkenntnis und in allem Denken, Fühlen und Handeln inspiriert vom Adel verstehender Liebe. Es geht nicht ohne den Blick auf das Ewige in dieser Welt, nicht ohne den Glauben an eine höhere Bestimmung des Menschen, nicht ohne Seele, nicht ohne Liebe zu unseren Nächsten, eingeschlossen alles Edle und Ideale -, aber auch nicht ohne zielbewusstes Streben, ohne Planung, ohne die Kräfte und Fähigkeiten des Geistes und des Willens. Unser Leben ist wie Ton in den Händen des Töpfers: Er wird das, was wir daraus machen, oder durch die Zeit und die Umwelt daraus machen lassen. Eine Wende zum Guten aus dem kulturellen Niedergang und dem Wirrwarr unserer Gegenwart ist nur möglich durch eine Massenabwanderung aus der Vergottung der Materie, der sich der Mensch durch den Verlust der gottgesetzten Mitte verknechtet hat.
Mein Horst, mein Junge, was ich nur heute wieder für philosophische Gedanken aufgreifen könnte. Dabei will ich Dir herzlich danken für Deinen letzten lieben Brief und besonders für die 3 kleinen Bände. Natürlich habe ich mich zuerst auf die „römischen Kaisermünzen“ gestürzt. Welche Reinheit und welche Stärke ihrer Darstellung, welche Schönheit und welche Klassik. Hier hast Du mir eine wirkliche Freude bereitet. Es berührt mich hier immer warm und innig, wie sehr Du Dich bemühst (und es gelingt Dir) hierbei in mich einzudringen. Nicht vergessen sei auch Dein Gruss zum Fest Fronleichnam. Spricht er doch für Deine Toleranz und für Dein feines Empfindungsvermögen. Hab Dank, mein Bester. Über die Pfingsttage war ich bei meiner Mutter. Sie hat mich wieder einmal richtig „verwöhnt“. Ich glaube sie fühlt etwas und liebt mich deswegen am meisten. Meine Gedanken kreisten in diesen Tagen besonders um Dich, um uns. Es war und ist mir oft so als wärest Du da und neben mir. Von jeher habe ich der Telepathie zwischen sensiblen Menschen eine grosse Bedeutung zugemessen. Diese seelischen und seel.-körperlichen Erscheinungen, die ausserhalb der bekannten Naturgesetze zu stehen scheinen, sind ja neuerdings auch Objekt von Forschungsstätten an Universitäten. Von was ich allerdings abrücke ist Hellsehen, Prophetie und Telekinese. Das grösste und zugleich schönste Geheimnis wird immer die Seele des Menschen sein, wie wundersam, zuweilen von ihrer Existenz berührt zu werden.
Heute muss ich eine Bitte an Dich richten, Horst, sende mir bitte keine Eilpost mehr, so sehr ich mich immer freute. Ich tue es meiner Hausdame zuliebe. Du weisst doch, sie ist beinamputiert. Nun will es immer der Umstand, dass Eilpost von drüben in Stgt. sehr früh ankommt und sofort, d.h. so um 7.00, zugestellt wird. Meine Hausdame steht nie vor 9.00 auf, ich selbst bin oft schon gleich um 7.00 ausser Haus, dann klingelt also der Bote stürmisch, denn er soll ja die Eilpost persönlich zustellen. Bis nun die Hausdame, sie ist auch schon 63, aus dem Bett kommt, ihre Prothese anbringt usw. vergeht einige Zeit und verständlicherweise wird sie in ihrer Gewissenhaftigkeit nervös. Also bitte, mein Horst, tue es mir u. zu unserer allseitigen Verständigung. Gewöhnliche Briefe kommen in den Kasten im Parterre, die ich dann am Abend mit in den 4. Stock nehme, denn der Gang über das Treppenhaus fällt der Dame recht schwer. Da ich nun einmal ein rücksichtsvoller Mensch bin, will ich ihr gern dieses Versprechen geben. Du selbst wirst mich bestimmt verstehen können.
Mein Freund, mein Du, so will ich auch heute wieder zum Ende unserer Zwiesprache kommen. Streben wir weiter unserer schöpferischen Mitte, unserem echten Mensch- und Freundsein zu. Ziel unserer Bestimmung soll sein ein Wesen mit Herz und Vernunft, handelnd aus Einsicht in die Harmoniegesetze eines mit Freude und Zufriedenheit erfüllten Daseins. In herzlicher Umarmung bin ich Dein

[schwer lesbarer Name].

 

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