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Brief (Transkript)

Eberhard P. aus Karl-Marx-Stadt an Rolf G. nach Kiel am 15.11.1989

 

KMSt., 15.11.89

Hallo, liebe Sonny, lieber Rolf!

Der geradezu atemberaubende Fortgang der Geschehnisse hält uns noch derart gefangen, daß fast alle Freizeit dem Fernseher gewidmet wird! Zweimal in der Woche geht’s zur Demonstration, natürlich mit Transparent, das sind gigantische Veranstaltungen, meist über 50.000 Menschen, die Demo beginnt und endet jedesmal vor dem Hauptsitz der SED – und dort gibt’s dann, über leistungsstarke Lautsprecheranlagen verstärkt, Dampf! Unvorstellbare, scharfe Texte, für welche es vor Jahren lange Zuchthausstrafen gesetzt hätte. Dazu Transparent-Texte, wie: SED – tritt ab!, „Harte Strafen den roten Scharlatanen!“, „Nie wieder Terror und Lüge!“ usw. usw. Vor den Paß- und Meldeämtern der Polizei stehen seit Tagen riesige Menschenschlangen, nach dem begehrten Visum-Stempel an. Wartezeiten bis zu 6 Stunden sind normal. Mit zu den Allerersten, die über die Grenze eilen, zählen natürlich die uns gut bekannten, bislang unverbesserlichen Bonzen und SED-Mitläufer, welche plötzlich ganz anders tönen und schon immer gewußt haben ….. Schade, daß diese Leute beim Grenzübertritt nicht automatisch rot aufleuchten! Sie können es gar nicht erwarten, das „Begrüßungsgeld“ in die Hand zu bekommen! Es ist geradezu unglaublich, wieviele Lumpen es doch gibt …. Unsere „Kleinen“, Axel und Freundin Ines, haben es sich in den Kopf gesetzt, am Wochenende nach München zu fahren, wir wollen versuchen, ihnen das auszureden. Es ist doch geradezu abenteuerlich – der einzige Zug fährt gegen 10.00 Uhr hier ab, ist 17.00 in München, und dann beginnt fast schon die Nacht. Wir haben dort keinerlei Freunde oder Bekannte, die mal für eine Übernachtung sorgen könnten, also, was soll’s. Aber ihnen das auszureden fällt sehr, sehr schwer. Immerhin sind sie aber auch schon lange volljährig und mit 20 auch recht selbständig. Alles in allem, eine unglaubliche Entwicklung, wenn man mal von den Anfängen am 7. Oktober ausgeht, als – und ich habe das selbst gesehen – Polizei mit Schild, Helm und Schlagstöcken vorging gegen friedliche Demonstranten – dahinter der Wasserwerfer, auch in Aktion – dahinter die Kampfgruppen in Zivil, aber mit Helm – drüber der Polizeihubschrauber als Leitzentrale und Hunde an der langen Leine auf Demonstranten gehetzt wurden, als Verhaftungen junger Leute erfolgten. Heute ermittelt der Staatsanwalt gegen die Polizeitäter – endlich ist es soweit. In manchen Autos der Spruch im Heckfenster – „daß ich das noch erleben darf!“. Aber insgesamt sind wir noch ängstlich und skeptisch und erst wenn die ersehnte freie Wahl die SED entmachtet hat, können wir wirklich echt hoffen. Wir wollen und können nicht glauben, daß diese Leute besserungsfähig sind, nach 40 Jahren DDR-Erfahrung. – Nun aber zu Deiner Anfrage, lieber Rolf. Wir haben keine speziellen Wünsche, aber ein paar von den wisch- und wasserfesten Signier-Filstiften (breit) wären gut, ein großer Herzenswunsch von mir ist auch der bereits mal beschriebene Autokatalog (Weltproduktion). Eventuell einige Ersatzklingen für den Gilette-Rasierer (Schwingkopf, Doppelklinge) Plasteteil, mit Schneidklingeneinsatz? Auch ein Stadtplan von Westberlin interessiert uns, bei den jetzigen Möglichkeiten! Einem Wiedersehen stehen alle Türen offen! Wir wollen in absehbarer Zeit, wenn die „Rammelei“ sich etwas gelegt hat, mal nach Hof in Bayern fahren. Dort mußte ich, am Heiligabend 1964, in eisiger Kälte und ohne einen Schluck einer warmen Flüssigkeit, die ganze Nacht an der Grenze liegen und wachen, daß uns der allböse „Klassenfeind“ aus der BRD nicht überfällt … und in Hof läuteten die Glocken … werde ich nie vergessen, diese Zeit bei der Armee. –
Für Euch haben wir auch, als Vorinformation, eine gute Nachricht – Sonny bekommt diesmal zum Fest die heiß ersehnte Spieldose aus der Erzgebirgsproduktion. Wir befürchten noch Probleme, weil doch im Paketversand nur bis zu 100,- M. Wert zugelassen sind – aber ein Transfer via Mauer wäre auch eine Lösung. Eventuell stehen aber auch in diesem Bereich positive Änderungen ins Haus? Egal, irgendwie packen wir’s schon!
Also, Ihr Lieben, das solls gewesen sein, wir sind voller guter Hoffnung und ganz außer uns über die Entwicklung! Hoffentlich gibt es ein Happy End, etwa in Richtung „DDR – 11. Bundesland“? Das wollen wir!
Wir freuen uns darauf, bald wieder von Euch zu hören!

Herzlichst, Eure Irmhild & Eberhard!

 

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