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Brief (Transkript)

Helga K. aus Kassel an Monika A. nach Bad Berka am 28.11.1989

 

Kassel, 28.11.1989

Liebe Monika!

Ich habe in den letzten Wochen so intensiv an Dich gedacht, daß Du das anscheinend gemerkt hast, denn kurz danach kam nun gestern der Brief von Dir. Ich freue mich, daß es Dir anscheinend gut zu gefallen scheint und daß Du vor allem auch ein Einzelzimmer hast. Das ist für eine Kur doch sehr wichtig. Wo liegt das Bad Berka eigentlich genau ? Und die sechs Wochen werden Dir sicherlich auch sehr gut tun, denn Du hast ja auch immer einen großen Haushalt gehabt und alles auf enger Wohnfläche und dann die Sorgen um Mutti und sicherlich nun auch mit den Schwiegereltern. Das bleibt nicht ohne Aufregungen und damit auch gesundheitlichen Einbußen. Ich habe es wirklich an mir selbst auch gemerkt. Ich habe sehr an Mutti gehangen, habe auch alles für sie getan, obgleich es sicherlich desöfteren über meine Kräfte ging. Aber da ich es gerne getan habe, konnte ich es auch einigermaßen verkraften. Nur sehr viel länger wäre es mit dieser Dauerbelastung auch nicht gegangen. Ich habe doch gemerkt, wie sehr mein eigener Haushalt im argen lag. Aber ich habe es getan und auch gerne; ich hätte mir ewig Vorwürfe gemacht, hätte ich anders gehandelt.
Es kommen auch heutzutage noch viele trübe Stunden, wenn man dann an Mutti denkt, aber das empfindet wohl jeder irgendwann einmal. Da muss man einfach mal durch.

Du hast zwar geschrieben, daß Deine Mutti während Deines Aufenthaltes gut versorgt ist. Aber wie geht es ihr wirklich. Wird es weiter schlechter oder ist wenigstens ein Stillstand des Zerfalls eingetreten, denn eine Besserung ist sicherlich in irhem Falle nicht zu erwarten, oder?

Über die Öffnung der Grenzen war ich doch sehr sehr überrascht. Und ich freue mich darüber riesig. Hat man doch so wenigstens mal die Möglichkeit, mal etwas anderes zu s e h e n, vielmehr wollen die meisten ja sicherlich auch nicht. Die Reiserei genügt ja schon, daß man einfach mal irgendwo anders hinkommt und sieht etwas anderes. Und die eine oder andere Kleinigkeit kann man sich dann auch mal leisten, wenngleich auch bei horrendem Ost/West-Kurs. Daß Deine ganze Familie drüben war, ist ja schön. Das Begrüßungsgeld von je 100 DM pro Person ist ja nicht allzu viel, aber ein paar Kleinigkeiten kann man sich doch mal kaufen (Schokolade, andere Süßigkeiten, Kaffee, Obst). Es gibt sicherlich das eine oder andere, was Ihr sehr schlecht bekommt und da könnt Ihr dann wenigstens einen kleinen Ausgleich haben.
Konnte Dein Mann denn Mutti mit dem Auto mitnehmen, so daß sie wenigstens auch in den Genuß der 100 DM kam oder konnte er wenigstens ihren Ausweis mitnehmen, damit er das Geld auch bekommt ???
Kommt Ihr dann auch mal zu Deinem Cousin nach Neukölln ? Ist das der Bodo Jung, wo meine Mutti die Anschrift in Ihrem Adreßbuch hatte ?

Es ist schön, daß Ihr soviel Freude an Eurem Enkel habt! Geht es Sylvie und ihrem Mann auch gut ? Was machen Sylvie und ihr Mann eigentlich beruflich ? Kann man jetzt, wo alles umorganisiert wird bei Euch, Dir auch direkt schreiben oder soll man das lieber weiter über Sylvies Adresse laufen lassen ?
Ich bin mal gespannt, wie es weitergehen wird. Ich glaube nicht an eine Wiedervereinigung. Aber die Reiseerleichterung ist ja schon mal gut, vielleicht werden sich die DDR und die BRD auch finanziell einig mit einem Devisenfond oder so, so daß Ihr vielleicht auch mal herüberkönnt. Ich finde es ganz gut, daß bei Euch jetzt endlich einmal demonstriert wird, so ist doch schon etwas geändert worden. Anders wäre es ja nicht mehr gegangen, viele Menschen sind ja geflüchtet (was ich durchaus verstehe), aber ein Dauerzustand ist das ja auch nicht (weder für die DDR wegen Versorgung, Produktion etc.) und auch für die BRD nicht, denn hier fehlt es natürlich auch überall an Wohnungen, eventuell auch an Arbeit. Ich habe manchmal die Leute bewundert, die mit nichts mit zwei/drei kleinen Kindern geflüchtet sind. Es war für mich unfaßbar, aufs Gradewohl (ohne gesicherte Zukunft) zu flüchte. Ich wünsche es allen, daß sie sich hier zurechtfinden werden, Arbeit und Wohnung finden werden. Leicht wird das bestimmt nicht, denn es gibt eine Menge Arbeitslose. Handwerker sind natürlich nach wie vor sehr gefragt und haben sicherlich die größten Chancen.

Ich finde es gut, daß jetzt vieles mal zur Sprache kommt. Auch finde ich es gut, wenn freie Wahlen stattfinden. Wie ganz anders sind die Nachrichtensendungen jetzt von Eurem Fernsehen. Plötzlich sind Reporter von Euch bei uns im Fernsehen. Ich bin wieder ein begeisterter Fernseher geworden, weil ich meine, sonst irgendetwas zu versäumen.

Wir kennen ja Westberlin wenigstens noch, wenngleich auch fast nur als Kinder.
Aber wir kennen die Vielfalt des Angebots, die schönen Geschäfte und was damit alles zusammenhängt. Aber jetzt die Generation Deiner beiden Kinder – die beiden müssen ja ganz überrascht gewesen sein. Sicherlich ist es für sie auch mal etwas anderes. Und schön, am Wochenende vielleicht mal Schaufenster besehen gehen. Vielmehr konnten wir ja früher auch nicht, da fehlte ja auch das Westgeld. Und so ist es heute auch noch.

Hoffentlich geht alles gut und die Grenzen bleiben erst einmal offen. Wenn sich auch für uns Westdeutsche etwas ändert, möchte ich es einfach mal versuchen, auch nach Ostberlin zu kommen. Ein gewisses Risiko sehe ich persönlich immer noch, aber jeder rät mir zu, es würde mir nichts mehr passieren, jetzt schon mal gar nicht mehr, wo jeder Angst um seine eigene Position hat. Man muß erst einmal abwarten. Ich würde so gerne mal zum Müggelsee, nach Köpenick, auch nach Lichtenberg, gerne mal an den Alexanderplatz und Unter den Linden sein, mal um Berlin herum, wo meine Oma wohnte (Grünau – Eichwalde – Zeuthen – Wildau – Königswusterhausen) und mal die Gräber meiner Großeltern in Wildau und meines Vaters in Pankow besuchen. Vielleicht kommt es doch mal dazu. Ich würde gern mal eine Dampferfahrt auf der Spree machen nach Müggelhort oder zur Woltersdorfer Schleuse. Ich habe soviel Erinnerungen, auch gute – alles das, würde ich gerne mal besichtigen und noch einmal erleben. Vielleicht kommt es ja doch einmal dazu.

Daß Du Dioch ein bißchen um Freu R. kümmerst, kann ich verstehen. Aber sehr viel Zeit wird Dir dafür auch nicht bleiben, denn Du bist sicherlich zeitlich sehr eingespannt. Nun ist sie auch schon 78 Jahre. Vielleicht war es für Marianne auch besser, bei so einer schweren Krankheit, daß sie eingeschlafen ist. Ich hatte nie viel Kontakt zu Ihnen, weder zu Frau R. noch zu Marianne. Mir lagen sie nicht so sehr und wir, d.h. ich, hatten ja den eigenen Freundes- und Bekanntenkreis (auch in unserem eigenen Mietshaus) mit B.s, Karin D. usw.

Bei uns ist es inzwischen wieder recht mild, nachdem es in der vergangenen Woche sehr oft Nachtfrost hatte. Heute war mildes Klima und strahlender Sonnenschein. Ich freue mich schon sehr auf einen schönen kräftigen Schnee-Winter. Mal muß das auch sein. Es gehört einfach zur Natur mit dazu.

Mit meiner Freundin Gitta aus Berlin (sie wohnte direkt neben der Schule in der Siegfriedstraße) habe ich noch immer sehr intensiven Kontakt. Sie sind 1942 zusammen eingeschult worden in der gleichen Klassem gingen zusammen zur Konfirmation und wurden auch gemeinsam aus der Schule in Neu-Lichtenberg entlassen. Sie war schwer Tb-krank, wurde an der Lunge operiert (sie hat nur noch einen Lungenflügel), lag 2 Jahre im Lungensanatorium (erst in Berlin-Buch) und dann in einem Sanatorium in Benneckenstein im Harz. Danach hat sie geheiratet und zog nach Saßnitz auf die Insel Rügen. Ich bin 1956 geflüchtet, sie 1958. Sie wohnte zuerst in Koblenz, dann bei Bonn und seit 1970 wohnen sie in Schleswig-Holstein, wo sie mit ihrem 2. Mann aus Saßnitz ein eigenes Haus gebaut hat. Wir verstehen uns sehr gut. Gestern haben wir erst wieder sehr lange am Telefon miteinander gequatscht. Wenn ich zweimal im Jahr oben in Schleswig-Holstein bin, muss ich auch erst ein paar Tage zu ihr. Sonst fehlt mir irgendetwas. Wir haben beide fast das gleiche Naturell, die gleichen Interessen (Musik usw. usw.), so daß wir uns sehr gut ergänzen.

Sonst wüßte ich im Moment nicht viel Neues zu berichten. Seit Ende der vergangenen Woche habe ich in meinem Büro eine ganz neue Büroeinrichtung (fast 9.000 DM), aber ich hatte noch kein einziges neues Möbelstück seit meiner Firmenzugehörigkeit vor 23 ½ Jahren. Es sieht schon gut aus. Ich mußte auch einfach etwas Neues haben, weil ich den Computer mit Drucker usw. und einer normalen Schreibmaschine einfach nicht mehr unter bekam.

Vom 14. bis zum 17. Dezember fahre ich nach Köln/Düsseldorf. Das ist mal wieder etwas Anderes für mich. Ich war schon lange nicht mehr in meiner „zweiten“ Heimat in Düsseldorf. Und ich habe doch noch einige Freunde und Bekannte dort. Dann werde ich durcharbeiten bis zum Mai/Juni (wenn ich nicht vielleicht kurzfristig in der Osterwoche noch 4 Tage Urlaub nehmen sollte). Geplant ist für meinen Haupturlaub wieder Grömitz an der Ostsee. Da ist eine Appartmentanlage, die mir so gut gefällt.

So, meine liebe Monika, das wäre es für heute. Nun wünsche ich Dir weiterhin alles alles Liebe und Gute, gute Erholung, damit Du wieder Kraft und Zuversicht schöpfst für all das, was noch vor Dir liegen mag. Ich hoffe, daß man Dir vielleicht doch noch für Deinen Darm helfen kann. Genieße die Zeit nur richtig, denn so schnell kommst Du sicherlich nicht wieder zur Kur. Genieße und mache das Beste daraus.
Wenn Du mal wieder Zeit und vor allem auch Lust haben solltest, dann schreibe doch wieder mal.
Nochmals alles Liebe und Gute und die allerherzlichsten Grüße
Deine

Helga
b.w.

Liebe Monika!

Nur zu Deiner Kenntnis:
Ich habe zwei Pakete auf Deinen Namen per Adresse Sylvi abgesandt (eines hat proforma den Absender einer Kollegin). Die zwei Pakete sind für Gertrud und Dich mit Deiner Familie. Nur 1 Dose mit ganzen und eine mit geschnetzelten gib Sylvi noch ab. An Sylvi selbst habe ich ein kleines Paket abgesandt, da gingen die 2 Dosen nicht mehr rein. An Sylvi habe ich schon geschrieben, daß drei Pakete an ihre Adresse unterwegs sind.
Nun schimpfe nicht mit mir. Das wäre im Sinne meiner Mutti gewesen. Solange Deine Mutti lebt, will ich versuchen, dieses weiterhin so zu machen.

Eine Frage: Kann Sylvie oder Ihr für Garten zwei Kopfkissen und ein waschbares Oberbett gebrauchen? Das sind Sachen, die ich noch von Mutti aufgehoben hatte. Wenn Ihr das gebrauchen könnt, dann schicke ich das im Januar ab.
Bitte Bescheid sagen!

 

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