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Brief (Transkript)

Anneliese H. aus Stralsund an Paula M. nach Hamburg am 13.06.1948

 

Stralsund, den 13.VI.1948

Meine liebe, süsse Tante Paula!
Inzwischen wirst Du ja wohl meine Karte bekommen haben und dadurch wissen, dass Du Dir jetzt keine Sorgen und Gedanken um mich mehr zu machen brachst, sondern Du brauchst Dich nur noch mit uns zu freuen, dass mein kleines Mädel wunschgemäss, glatt und gesund eingetrudelt ist. Doch ehe ich mich weiter in dieser Richtung hin ergiesse, möchte ich mich herzlich für Deinen lieben Brief vom 3. Juni. bedanken. Er kam am 7. schon bei mir an. Das ist geradezu bewunderungswürdig schnell gegangen. Schneller gehen ja noch nicht einmal die Briefe von hier bis Greifswald. Also Päckchen Nr. 91 habe ich erhalten. Die Küsschen dafür gibt Dir jetzt mein Töchterchen, denn sie träumt auf der grauen Decke in ihrem Körbchen bereits ihre Babyträume. Die Nudeln sind für mich zu Süppchen verwendet worden, als ich in der Klinik lag. Da hatte ich ja ewig Hunger. Der Arme Onkel Erich tut mir ja so leid, dass er nun auch noch hungern soll. Aber das ist wohl ein Finte vom Arzt. Der will dann wohl den Rest von Onkel Erichs Lebensmittelzuteilung haben. Ich würde ja nicht darauf reinfallen sondern immer doller essen. Das ist die beste Medizin in heutiger Zeit. Wird Erikas Hochzeit denn nun an Tante Emmys Geburtstag? Ihr müsst schon entschuldigen, wenn meine Gratulation später kommt, aber ich wusste ja nichts genaues und so auf den blauen Dunst hin wollte ich meine frommen Wünsche auch nicht verschwenden. Also schreibt erst mal etwas positives über diesen Fall und ich werde mich daraufhin näher dazu äussern. Na, sie wird ja auch ohne meine „Herzlichen Wünsche“ gut ins Eheparadies hineinrutschen. Also Sprösslinge lehnt Erika ab. Na, ablehnen kann man ja. Alles weitere Denken behalte ich mir vor. Ich kann nur ganz offen sagen, dass ich für meinen Fall vom Kinderkriegen noch gar nicht so kuriert bin. Und wenn ich erst verheiratet bin, werde ich mir zu meiner Tochter gleich den Jungen bestellen. So schlimm ist doch die ganze Sache gar nicht. Ich wollte ja eigentlich bis Pfingsten arbeiten, also Dienst machen. Aber der Arzt machte mir die Hölle heiss, indem er meinte, das Kind würde um den 19. herum schon kommen. Also vom 16. ab könnte ich täglich damit rechnen. Na, nun bekamen meine Kolleginnen es mit der Angst, dass das Kind womöglich noch im Amt zur Welt kommt. Da hörte ich dann am 10. Mai auf zu arbeiten. Weil es nun von der Ravensbergertsr. bis zum Krankenhaus so weit ist, siedelte ich zu Hilde über. Nun ging Hilde aber am 6.5. zu einer Unterleibsoperation in die Klinik und ich sass mit Dieter und dem Haushalt alleine da. (Erwähne in Deinen Brief nichts davon, dass Du weisst, dass Hilde zur Operation in der Klinik war.) Das ist mal wieder ein dunkler Punkt gewesen, über den ich vielleicht später mal Aufklärung geben kann. Du kannst Dir denken, dass ich mehr wie genug in den letzten Tagen umherfegen musste. Jeden Tag dann Hilde Mittag in die Klinik bringen. Mir taten abends dann dermassen die Drüsen in den Lenden weh, dass ich mich knapp im Bett umdrehen konnte. Dazu nur mit Dieter und der Flüchtlingsfrau im Haus. Ich habe immer ein recht unbehagliches Gefühl gehabt, wenn ich mich in den letzten Tagen abends ins Bett legte. Na, dachte ich, wenn das diese Nacht doch noch gut gehen möchte. Mutti wollte Pfingsten kommen. Und als ich sie dann anrief und fragte, meinte sie ganz seelenruhig, Alma N. wäre in Kosenow und die meinte, sie sollte erst am 24. nach Stralsund fahren, wenn sie wieder nach Berlin fährt. Na, schliesslich kam Mutti dann doch am 2. Feiertag, weil ich sie bat. Weisst Du, mir waren die letzten Nächte allein zu sein so unheimlich und ich habe direkt aufgeatmet, als Mutti nun da war. Auch fiel mir doch die ganze Hausarbeit bei Hilde und dann das Laufen und Besorgen in der Stadt in den letzten Tagen doch recht schwer. Ich war ja zum Schluss so stark und das Kind lag so tief, dass mir das Gehen und lange Sitzen sehr schwer fielen. Und gerade die letzten Tage hatte ich mit dem Wohnungsamt wegen des anderen Zimmers unendlich viel Laufereien. Nach vielem Krach und Theater bekam ich dann endlich dies Zimmer in der Friedrich-Engelstr. 18, II Treppen. Na darüber noch an anderer Stelle dieses Briefes. Denn das ist ein Kapitel für sich. Jedenfalls sind Mutti und ich am 25. u. 26. mit sämtlichen Klamotten umgezogen. Am zweiten Tag, konnte ich aber auch fast nicht mehr kriechen. Am 27. vormittags gehe ich dann noch mit Hilde, die inzwischen aus der Klinik gekommen war, zur Krankenkasse um meinen Kram zu regeln. Ich sollte doch kein Krankengeld in der Zeit wo ich aussetze bekommen weil ich noch nicht 10 Monate versichert war. Nun war ich doch damals bei Hilde als Hausmädchen beschäftigt, hatte mich aber nicht bei der Kasse anmelden lassen, weil ich sonst bedeutend weniger Geld ausgezahlt bekommen hätte. Da wollten wir dann die Sache so regeln, dass wir die Anmeldung nachholen wollten, so dass die 10 Monate Mitgliedszeit herauskamen. Den Beitrag müsste ich natürlich nachzahlen. Das waren 50 RM. Es klappte auch alles blendend und als ich nun mein Krankengeld jetzt abholen wollte, bekomme ich den erfreulichen Bescheid, dass ich nicht mehr im Lohnverhältnis stehe, da ich ab 1.Mai im Angestelltenverhältnis wäre. Infolgedessen läuft mein Gehalt weiter und die Krankenkasse scheidet damit aus. So, nun hatte ich die 50 RM umsonst nachgezahlt. Aber wer weiss das immer vorher. Na, das nur nebenbei. Also am 27. vormittags latsche ich noch in der Stadt herum. Nach dem Mittagessen bekomme ich plötzlich so seltsames Bauchkneifen und muss dauernd auf die Toilette. Nun wollten Hilde und ich an dem Nachmittag gerade zum Arzt. Ich wollte mal hören, was der meinte, wann ich mit der Geburt rechnen könnte. Der andere hatte am 19. gesagt und nun war schon der 27. und immer noch nichts zu merken. Mutti und mir wurde das Warten so allmählich wirklich über. Na, als Hilde nun mein dauerndes Manöver auf der Toilette bemerkte, meint sie, wir müssen wohl eher zur Klinik gehen als zum Arzt. Bis 16 Uhr warteten wir noch. Als dann die Schmerzen aber regelmässig wiederkamen zottelten wir zur Klinik. Um 17 Uhr lag ich dann in meinem Zimmer. Bis 19 Uhr blieb Hilde noch bei mir. Dann schickte ich sie fort, weil meine Schmerzen nachgelassen hatten. Sie meinte dann auch, dass es wohl so schnell noch nichts werden würde. Na, um 21 Uhr kam der Arzt und untersuchte. Da hatten die Wehen wieder eingesetzt. Aber noch mit solchen Abständen, dass ich inzwischen schlief. Um 23 Uhr kam der Arzt noch mal nachsehen und 20 Minuten später wurde ich in den Kreissaal geschoben. Und dann haben der Arzt und die Hebamme vielleicht mit mir rumgeackert. Weil meine Wehen so schwach waren musste ich mich furchtbar dabei anstrengen. Ich konnte zum Schluss fast nicht mehr. Die Schmerzen habe ich gar nicht so empfunden. Aber das fortwährende Pressen mit angezogenen Knien war eine Tortur. Und das 1½ Stunden lang. Dann war endlich meine kleine Puppe da. Die Hebamme dachte sie müsste einen Schnitt machen, aber dann ging es doch so. Die Süsse war kaum mit dem Kopf auf der Welt, da brüllte sie schon wie am Spiess. Päule, ich habe es früher nicht ganz glauben können. Aber jetzt habe ich es selbst erfahren, mit dem Augenblick, wo das Kind seinen ersten Schrei tut, hat man alle Schmerzen vergessen. Ich hätte Dir schon ein paar Stunden später nicht mehr beschreiben können, ob es nun sehr schmerzhaft war oder nicht. Das habe ich sofort vergessen. Und nun darfst Du ruhig entsetzt sein, wenn ich Dir sage, dass ich, wenn ich erst verheiratet bin, aber ohne Frage auch noch den Jungen zu meiner kleinen haben will. Sonst kommst Du ja ganz um das Hosennähen. Und das geht doch nicht. Ja, also meine kleine Sigrid ist ein süsses kleines Ding. Rund und mollig. Aber ganz Kurt. Besonders die Augen und der ganze ernste Blick. Mutti meint ja sogar, dass sie mit Kurts Vater Ähnlichkeit hätte. Mir kommt es ja auch manchmal so vor. Na, wir werden ja hören was Familie H. sagt, wenn die das Kind erst mal gesehen hat. Ja, Päulelein, das Schicksal musste mir mal wieder eins auf den Deckel geben, indem ich 10 Tage bevor Sigrid geboren wurde von Kurt die böse Nachricht erhielt, dass bei der letzten Röntgenaufnahme eine Verschlimmerung bei seiner Lunge festgestellt wurde und er musste auf ärztliche Anordnung sofort sein Studium abbrechen und in klinische Behandlung gehen, wenn noch Aussicht auf Heilung bestehen bleiben soll. Wie mich diese Nachricht getroffen hat, kannst Du Dir wohl vorstellen. Doch ich habe ja in den letzten Monaten so viele bittere Pillen zu schlucken bekommen, dass diese dann schliesslich auch verdaut wurde. Nun liegt Kurtl schon drei Wochen in Greifswald in der Klinik und kann sein kleines Mädchen nicht sehen. Wie weh mir getan hat, dass Kurt nun nicht kommen konnte, als ich in der Klinik lag, kannst Du wohl nachfühlen. Aber ich glaube, Muttis Worte: Wer weiss wozu das gut ist, bewahrheiten sich mal wieder. Denn ich bekomme seit Kurt in der Klinik liegt und besonders seit das Kind geboren ist, so liebevolle, rührend besorgte Briefe von ihm, wie ich seit Jahren nicht mehr gewöhnt bin. Als Kurtl Mittwoch vor Pfingsten das letzte Mal bei mir war und wir uns da endlich über die Namen einig wurden, d.h. er hat die Namen bestimmt und ich musste ja und Amen dazu sagen, gab er mir 200 RM, damit ich 2. Klasse gehen sollte in der Klinik. Als ich nun aber doch kein Krankengeld haben sollte, bin ich dritter Klasse gegangen, um das Geld zum Leben zu behalten, während ich aussetzen musste. Als nun Sigrid geboren war, schickte Kurtl mir gleich 50 Mark. Und jetzt hat er mir durch Papa sogar eine elektrische Schnur besorgt für meinen Kocher. Mir kommt es geradezu so vor, als wenn er durch die viele Zeit, die er jetzt zum Nachdenken hat im Bett, erst einmal zur Besinnung kommt und merkt was ich eigentlich die letzten Monate ausgehalten habe. Denn er schreibt in seinem ersten Brief, nachdem Hilde ihn angerufen hatte und ihm Sigrids Geburt mitgeteilt, mein Wunsch, dass es ein kleines Mädchen werden möchte, wäre ja nun in Erfüllung gegangen. Aber er gönne es mir von ganzem Herzen, als kleine Entschädigung für all das Schwere, das ich in der letzten Zeit durchmachen musste. Er schreibt dann noch, dass es aber diesmal das erste und einzige Mal gewesen sein soll, dass ich alleine alles durchmachen musste. Das nächste Mal will er aber für mich sorgen. Vor allen Dingen möchte er doch sein kleines Mädchen gerne selbst erziehen und hofft, dass es nicht mehr so lange dauert, bis wir zusammenleben können. In jedem Brief lässt er seine kleine Sigrid grüssen. Nun sagt mir nichts mehr gegen meinen Kurtl. Er ist ganz besorgter Papa. Von Mama bekam ich auch einen Brief in der Klinik. Als sie den geschrieben hatte, wusste sie noch nicht, dass Sigrid da war. Ich habe ihr den Brief dann in der Klinik beantwortet und ihr gleich das freudige Ereignis mitgeteilt. Sie hat nun selbst sich noch nicht dazu geäussert. Nur Kurtl schrieb neulich, dass Mama sich sehr zu meinem Brief gefreut hätte und falls ich an meinem Geburtstag noch nicht nach Greifswald kommen könnte wollte sie mich in Stralsund besuchen. Das war bisher alles. Na, ich lege auch keinen gesteigerten Wert auf weitere Gefühlsäusserungen von seiten der Behrenhöfer. Lass Du es nur auch lieber bleiben, da noch irgendwelche geschriebenen Wörter zu verschwenden. Das hiesse ja doch nur Perlen vor die Säue werfen. Und wozu. Hauptsache Kurtl hält zu mir. Was die Ollen machen ist mir schon ganz wurscht. Ich werde auch ohne sie fertig. Kurtl schrieb mir neulich, dass der Arzt gemeint hätte, vielleicht wäre gar keine weitere Behandlung mehr bei ihm nötig. Zuerst wollte man bei ihm ein Pneumo Thorax ansetzen. Was das ist und wie das funktioniert weiss ich allerdings auch nicht. Aber nun nach der letzten Röntgenaufnahme hatte der Arzt nur weiter Bettruhe und gutes Essen angeordnet. Nun hoffen wir ja beide sehr, dass es nicht wieder schlechter wird und er vielleicht bald nach Hause darf. Ich wollte nun schon gerne mal nach Greifswald und Kurtl besuchen. Aber ich kann ja wegen des Stillens nicht so lange von dem Kind fort. Nun hatte ich heute schon versucht, ihr mal die Flasche zu geben. Halb Milch halb Wasser und etwas Weizenmehl und Zucker. Nach einer halben Stunde hat sie mir alles wieder restlos ausgespuckt. Woher mag das wohl kommen? Was soll ich bloss machen, wenn ich in 3 Wochen wieder zum Dienst muss und sie verträgt die Flasche nicht. Gebt mir doch mal einen guten Rat. Gibt es dort wohl Tabellen, wie viel Gramm ein Kind trinken soll? Hier ist so etwas nicht zu haben. Und auf der Mütterberatung sitzen auch solche blöden Krauthexen, die keine Ahnung haben. Auch ein Mittel gegen Schnupfen kann ich nicht kriegen. Sigrid hat gleich am ersten Lebenstag ein wenig Schnupfen gehabt und der ist noch nicht fort. Und die Apotheken haben nichts dagegen. Sonst ist mein Spatz aber fein artig. Alle 4 Stunden bekommt sie zu trinken. Morgens um ½ 6 Uhr das erste Mal. Wenn sie dann fertig gemacht und satt ist, schläft sie ohne sich zu mucksen genau 4 Stunden und meldet sich dann prombt wieder. Nur nachts fängt sie gegen 3 Uhr zu brüllen an und das geht dann bis ich sie um ½ 6 Uhr aufnehme durch. Aber ich denke dass sie mit der Zeit schon begreifen wird, dass es nachts nichts zu futtern gibt. Mit Mutti hat es ja zuerst einem bösen Kampf gegeben. Sie behauptete, wenn das Kind Hunger hat, müsste es was haben. Na, Du kannst Dir ja Mutti vorstellen. Aber ich bin ja konsequent darin. Ich schlafe sogar morgens wieder ein, auch wenn die Lütte ununterbrochen brüllt. Mutti bezeichnet mich natürlich als Rabenmutter. Ja, Päulekind, unsere kleine Mutti lässt Dich erst einmal herzlich um Verzeihung bitten, dass sie Dir nicht einmal zum Geburtstag gratuliert hat. Aber sie war mal wieder ganz schön abgerackert, als sie hier nach Stralsund kam. Während ich in der Klinik lag hat Mutti auch mit 39° Fieber und einer bösen Erkältung 3 Tage im Bett gelegen und Hilde hat sie versorgt. Sie hat mir wirklich ernsthaft Sorgen gemacht. Sie war auch so schwach und elend. Aber seit ich aus der Klinik bin und wir drei nun alleine sind, hat sie sich doch schon erholt. Mutti ist nun seit dem 1.Juni für immer hier in Stralsund. Mit der Zuzugsgenehmigung hat alles fein geklappt. Auch mit dem Zimmer ist nach langem Kampf alles in Ordnung gegangen. Nur mit meiner Wirtin geht der Kampf jetzt weiter. Die blöde Ziege macht nämlich täglich Theater. Sie wollte uns des Kindes wegen ja schon gar nicht nehmen, weil sie um ihre Ruhe besorgt war. Das hat ja nun das Wohnungsamt wenig gerührt und sie wurde gezwungen uns zu nehmen, weil das Wohnungsamt kein anderes Zimmer für mich zur Verfügung hatte und ich doch dringend ein anderes haben musste. Aus lauter Wut darüber benimmt sich das Weib geradezu kindisch. Nichts stellt sie uns zur Verfügung keinen Topf, keine Schüssel, keinen Besen. Restlos nichts. Das ist ja nun etwas schauderös für uns. Denn wir stehen ja erst am Anfang unserer Bemühungen um wieder eine kleine Wirtschaft aufzubauen. Eine Waschschüssel, eine Wasserkanne und eine Uhr hat mir fürs erste eine Kollegin geliehen. 4 Tassen habe ich auch schon und einen tiefen Teller. Einer isst nun immer vom Teller und der andere aus dem Topf. Mutti hat ja den grössten Teil ihrer Sachen noch in Cosenow. Da ist ja auch noch etwas bei. Nächste Woche will sie die Sachen holen. Auf Gas will mich die alte Tante auch nicht kochen lassen. Na, es ist jedenfalls manches noch nicht in Ordnung und ich bin jeden Vormittag auf der Walze. Aber so langsam werde ich schon alles hinkriegen. Sonst ist unser Zimmer ganz nett. Als Möbel haben wir ein Bett, Chaiselongue, Tisch, 3 Stühle, Nachttisch, Kleiderschrank, Waschständer und ein kleines Regal. Etwas klein ist das Zimmer ja. Aber im Winter sicher leichter zu heizen. Mutti schläft nun im Bett und ich auf der Chaiselongue. Für das Kind habe ich einen Stubenwagen geliehen bekommen. Da schläft sie so süss drin. Gardinen haben wir nur eine kleine Falle oben vor. Die Lampe ist auch recht mies. Dafür haben wir aber eine wundervolle Aussicht von unserem Zimmer aus. Das Fenster ist nach hinten heraus. Erst ist ein Hof, dahinter ein Garten und dann kommt der Knieperteich. Und weil wir nun so hoch oben wohnen, können wir den ganzen Teich mit den herrlichen Anlagen überblicken Tag und Nacht haben wir das Fenster offen. Die Luft ist herrlich sauber. Wir wohnen nicht weit von Hilde ab. Die Gegend ist also höchst vornehm. Na alles andere wird sich dann schon so langsam finden. Ja, Päule, diesen Brief habe ich schon vor 4 Tagen angefangen. Aber jeden Tag konnte ich nur ein Stückchen weiterschreiben. Mir fehlt einfach die Zeit. Dabei lege ich mich morgens, wenn ich Sigrid fertig gemacht habe gar nicht mehr hin. Aber weiss der Himmel wo die Zeit bleibt. Mutti und ich haben tatsächlich unsere volle Beschäftigung. Mutti steht meistens und wäscht Windeln, die dann unter dem Fenster zum Trocknen aufgehängt werden. Das ist eine reine Angst. Bei gutem Wetter geht es ja, aber bei schlechtem ist es eine Katastrophe. Ich habe schon gesagt, dass wir sie bald abhalten müssen. Mit Jäckchen und Hemdchen haben mir meine Kolleginnen sehr geholfen. Vom Amt bekam ich zur Geburt des Kindes 65 RM. Heute schickte Kurtl mir per Postanweisung 200 RM. Wenn ich doch wenigstens einen Kinderwagen dafür jetzt kaufen könnte. Aber die Dinger sind furchtbar schwer zu haben. Aber vielleicht wird es ja doch noch etwas. Beim Wirtschaftsamt habe ich auch schon einen beantragt. Mama und Papa haben mir gestern nun auch geschrieben. Sehr nett und direkt etwas liebevoll. Zu meinem Geburtstag will Mama hier erscheinen. Sie schicken Sigrid sogar ein Küsschen mit. Mutti ist schon eifersüchtig. Ich denke, dass Mutti auch mal bald selbst an Dich schreibt, wenn sie innerlich nun etwas zur Ruhe gekommen ist. Sie ist ganz verliebt in mein kleines Mädchen. Zuerst war sie ja etwas enttäuscht, dass Sigrid so gar keine Ähnlichkeit mit mir hatte. Aber nun meint sie doch, das kleine Ding würde mit jedem Tag niedlicher. Sie bekommt ganz blonde Härchen. Schöne anliegende Öhrchen hat sie und ist kräftig gebaut. Wenn sie nur so schön gesund bleiben möchte. Das Kind ist doch unser ganzes Glück. Mutti möchte ihr schon immer in den kleinen Po beissen. Aber das gebe ich nicht zu. Ich muss überhaupt aufpassen wie ein Spitzbube, dass Mutti das Kind nicht verwöhnt. Na, Du kennst ja Mutti darin. Sie lässt Dir überhaupt sagen, Du müsstest kommen und Dir das süsse kleine Ding ansehen, es lohne sich wirklich. Eine richtige verliebte Oma ist Mutti. Übrigens will sie nur dann nach Labes zurückgehen, wenn Du mitgehen würdest. Ach, Du glaubst ja gar nicht, wie Mutti sich nach Dir sehnt. Kein Tag vergeht, an dem wir nicht von Dir sprechen. Und dem Püppi erzählen wir jeden Tag, dass die lieben Hamburger nur dafür gesorgt haben, dass das Kind immer wieder ein trockenes Windelchen unter seinem kleinen Po haben kann. Ich habe vom Wirtschaftsamt noch nicht ein Stückchen Kinderwäsche bekommen. Und wie oft war ich schon da. O, wo wäre ich wohl ohne Euch geblieben. Du glaubst gar nicht, wie oft ich am Tag Euch im stillen dafür danke. Immer wenn ich mein kleines Mädchen trocken lege, denke ich an Euch. Wie lange wird es wohl dauern, bis Du Dir mein Töchterchen ansehen kannst. Möchten doch diese bösen Zustände endlich ein Ende nehmen. Ja, Päule, sonst geht es uns gut. Ich fühle mich mit jedem Tag kräftiger. Mutti kocht uns abends jetzt immer dicke Milchsuppe von Hafermehl. Ich gehe dabei auf wie ein Hefekloss. Fühle mich aber äusserst wohl dabei, auch Mutti meint, sie wird bei dieser Ruhe hier wohl doch wieder kräftiger werden. Im Verhältnis zu der Arbeit in Kosenow ist das hier ja auch ein Sanatorium. Ich glaube, das Schicksal hat es mal wieder richtig gemacht, das ich Mutti nun hierher holen musste. Sie hätte sich in Kosenow restlos zu Grunde geschuftet trotz des guten Essens. Und dann knapp ein „Dankeschön“ dafür. Wenn der Herrgott uns weiterhin so beisteht wie bisher, kommen wir schon durch mit unserem kleinen Liebling. – Inge B. habe ich auch zum Geburtstag gratuliert. Ich habe ihr von meinem kleinen Mädchen geschrieben. Ich habe ja gar keinen Grund mein Töchterchen zu verleugnen. Das sollen ruhig alle wissen. In Greifswald scheint das auch schon bekannt zu sein. Da werde einer schlau draus. – Der Vater von Gerdas Jungen ist verheiratet. Sie tut mir sehr leid, denn was hat sie wohl auch seelisch durchgemacht. – An den Namen Cosima habe ich schon gedacht, aber Kurtl meinte solch ein doch recht seltener Name passte nicht zu dem Namen „Hahn“! Recht hat er ja. So, mein liebes Päulelein, ich würde ja wohl gern mit Dir erzählen. Aber meine Pflicht ruft. Es ist gleich ½ 10 Uhr abends und Klein-Sigrid zetert schon in ihrem Körbchen und lutscht verzweifelt an ihren Däumchen. Also werde ich sie wohl oder übel beruhigen müssen. Mutti liegt schon im Bett und schnarcht. Ich werde meine Puppe fertig machen und dann gehe ich auch schlafen. Mehr wie 5 Stunden Schlaf bekomme ich ja nun nachts nicht. Aber die Wochen gehen auch vorüber. Darum will ich für heute den Brief beenden, damit ich ihn morgen endlich abschicken kann.

Nun lass es Dir gut gehen, meine liebe Tante Paula. Herzliche, liebe Grüsse und ein dickes Küsschen sendet Dir Deine Anneli.
Von Mutti zunächst einmal liebe, innige Grüsse an Dich, bis sie selbst Ruhe zu einem Brief an Dich findet. Den drei E’s die allerherzlichsten Grüsse von Mutti und mir.
Schreibe bitte nicht so hart an Mama und Papa. Sie haben jetzt ihren grossen Kummer um Kurtl. Ich habe ihnen verziehen, denn meine kleine Sigrid lässt mich alle ausgestandene Not vergessen.

 

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