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Brief (Transkript)

Anneliese H. aus Neu-Kosenow an Paula M. nach Hamburg am 12.09.1946

 

Neu-Kosenow, den 12.9.1946

Mein liebstes, einziges, süsses Päulchen!
Heute will ich Dir nun mal wieder mein Herz ausschütten. Ach, dass ich Dir nicht mündlich all meinen Kummer beichten kann ist gar nicht lieb eingerichtet vom Schicksal. Unsere kleine Mutti und ich vermissen Dich immer mehr, je länger wir getrennt sind. Aber helf er sich. Seit 6 Tagen bin ich mal wieder in Kosenow bei meiner Mutsch. Was hatten wir beide nur für eine Sehnsucht nach einander. Ach Gott, Päule, meine Mutti wird ja immer weniger und elender. Was soll ich bloss machen! Eine unheimliche Angst steigt in mir auf, wenn ich Mutti ansehe. Wenn doch zu ihrem körperlichen Elend nicht auch noch all der seelische Kummer täglich immer neu hinzukommen würde. Aber das Leben hier wird ja immer unerträglicher. Mutti hält nun immer den Mund und frisst alles in sich hinein. Nun bin ich wochenlang _
Paulilein, ganz so schlimm ist das ja nicht wie es Dir vielleicht beim Lesen erscheinen muss. Es ist ja bestimmt schlimm wenn man garnichts hat, nicht einmal soviel dass es zu ganz sparsamem Leben ausreicht. Ich habe einen Antrag auf Pension gestellt muss nun abwarten was darauf kommt. –
Hab Dank Päulchen für das schöne Päckchen Nr.1. Wenn Du mal alte weisse Flicken hast zum Verbinden könntest mich damit erfreuen. Ich möchte mir das blaue Kleid nähen lassen u. nun können wir die Nähseide nicht finden. – Gestern kam hier ein Brief von Hans W. an welcher sich in einem Flüchtl. Wohn Lager in Neumünster, grosser Kamp Baracke 54, Brit. Zone befindet.
Nun musste ich schnell zentrifugen gehen und schon hat unsere kleine Mutti mir dazwischen gefummelt. Das ist doch toll. Nun will ich aber meinen oben angefangenen Satz vollenden. Mutti will immer nicht, dass ich Dir gegenüber Tante Lene in schlechtes Licht setze. Aber einmal muss ich doch meinem Herzen Luft machen. Also nun bin ich doch wochenlang nicht hier gewesen und habe also nicht den geringsten Teil von den mir zustehenden Lebensmitteln verbraucht. Aber immer noch predigt sie Mutti vor, dass sie nicht soviel Brot essen darf. Na, mir wäre neulich aber doch bald der Papierkragen geplatzt. Nur weil Mutti solche Szenen nicht liebt, bin ich immer still. Ich habe mich schon mit dem Gedanken getragen, diesen Winter über bei Frau K. nähen zu lernen. Aber nun werde ich doch versuchen in Greifswald irgendwo ins Büro zu kommen und mir mein Geld zu verdienen, damit ich wenigstens hier weg bin und dann werde ich schon einmal Mutti nachholen können. Frau H. hat mir neulich ja schon prophezeit, dass mir ein sehr günstiges Berufsangebot gemacht werden wird. Sie behauptet auch immer noch steif und fest, dass Vati lebt und wir uns in Labes wiedersehen werden. Na, möge sie recht haben. Die Aussicht auf eine Rückkehr nach Labes besteht ja im Augenblick stärker denn je. Morgen ist hier Gemeindewahl. Das erste Mal, dass ich auch wählen darf. Hoffentlich treffe ich gleich das Richtige. – Gestern kam auch Dein liebes Päckchen Nr. 3 für Mutti an. Nr. 2 fehlt noch. Ach, Päulekind, könntet Ihr nur einmal die Freude sehen, die jedes Mal ein Päckchen von Euch auslöst. Über die Haarnadeln, Opiumtropfen, Stecknadeln hat Mutti am meisten gehopst und die Pincette war für mich der Anlass eines Glücksseufzers. Tante Emmy ist ein Engel. Sie bekommt auch all die Dankküsschen nach, wenn erst die Zonengrenzen gefallen sind. Meine erste Reise ist aber dann zu Euch. Ich freue mich jetzt schon darauf. In Behrenhoff erreichte mich Dein Päckchen mit den Noten und eins mit dem süssen lila Tuch, den Büstenhaltern und Liederbüchern. Wie lieb habt Ihr wieder alle für mich gesorgt. Mama hat auch den Kopf geschüttelt, wie man nur solch eine liebe, für alles sorgende Tante Paula haben kann. Ja, solche lieben Hamburger gibt es ja auch nur einmal. Ach, mich bedrückt bloss immer, wie ich all Eure Fürsorge jemals wieder vergelten kann. Selbst im Traum quält mich dies Problem und ich habe darin schon so geweint, dass ich aber auch gar nichts habe, um Euch auch einmal eine winzige Freude machen zu können. Wie ist es nur bitter, so gar nichts mehr zu besitzen. Und wenn man wieder an andere denkt ist man doch reich. Also nicht undankbar sein. Am 16. will ich wieder nach Behrenhoff. Mutti ist ja sehr traurig und ich gehe mit geteilten Gefühlen. Ein greulicher Zustand. Warum liegt auch nicht alles Gute beisammen. Frau K. hat mir meinen blauen Überrock ein wenig schicker gemacht, meinen Wintermantel modernisiert und mir das lila Kleid passend gemacht. Du, das lila Kleid steht mir gut. Ich glaube, mein Kurt verliebt sich dann noch mal in mich. Ich will es auch am 25. also an Papas Geburtstag und an meinem Verlobungstag anziehen und damit einweihen. Dann könnt Ihr mal an mich denken. Ach, es ist mir so schwer, dass mein Mütterlein an dem Tag nun nicht bei mir sein kann und mein lieber, lieber Vati gar nichts von dem Glück seines Kindes ahnt. Wie anders habe ich mir doch mal den Tag erträumt! Aber Gott hat es so gefügt und da will ich auch ganz still sein. Päulelein, mich ergreift oft solch eine masslose Angst vor dieser Welt und ob ich wohl stark genug sein werde all den alltäglichen Kram zu meistern! Mir sind doch früher nicht solche Gedanken gekommen! Ich glaube, ich bin ein richtiger Angsthase geworden. Aber meine Nerven haben eben auch einen kleinen Knacks wegbekommen. Ich merke es daran, dass mich jedes harte Wort gleich weinen lässt. Es kommen aber auch täglich neue Sorgen. Na, es hilft nichts, durch müssen wir eben. Jetzt wird es schon so früh dunkel und wenn man abends noch sitzen will ist es schon fast zu kalt im Zimmer. Nun geht das Elend mit der Feuerung wieder los. Habt Ihr dort in den letzten Wochen auch so masslos viel Regen gehabt? Hier sind noch täglich Schauer. Alles verfault in der Erde. Der liebe Gott straft uns aber hart. Die Ernte ich auch nicht gerade rosig ausgefallen. In Behrenhoff sind 200 Morgen Hafer draussengeblieben und durch den Regen unbrauchbar geworden. Und dabei feiert das Volk drei Tage Erntefest. Da muss Gott ja zornig werden. Na, wir können es nicht ändern. R.s sind jetzt auch in der englischen Zone und zwar in (23) Osterholz-Scharmbeck. Herr R. und Christel sind in Bremen sofort wieder ins Amt gekommen und Uli geht dort zur Schule. Christel schreibt sehr begeistert. Günther J. und Agnes S. sollen in Celle verheiratet sein. Wo J.s stecken, weiss ich gar nicht. Erika W. schrieb, dass der Mantel ihr unterwegs gestohlen worden ist. Ich habe auch nichts anderes erwartet, als diese Nachricht. – Weisst Du schon, dass die Kosenower schon wieder ein Radio haben? Ich höre eben tadellose Tanzmusik von der Kapelle Adalbert Lutter. Das ist direkt mal schön. Vom 18. bis 20. 9. sind in Greifswald die Bach-Tage. Weisst Du überhaupt schon dass Kurt seit dem 2.9. in Greifswald wohnt und Kirchenmusik studiert und später die Organistenprüfung machen will? Bei der Prüfung hat er als bester abgeschnitten und hat sofort Orgelunterricht angefangen. Den die anderen Studenten erst im 3. Semester erhalten. Nun muss er jeden Sonntag beim Gottesdienst im Dom singen. Während der Bach-Tage wollen wir uns gemeinsam einige Orgelkonzerte anhören. Ich freue mich schon unsagbar darauf. Endlich mal wieder schöne Musik. Der Leipziger Thomaskantor Ramin und der Berliner Domorganist Prof. Heitmann werden dann auch mitwirken. Also werde ich mal ruhig leichtsinnig sein und ein bisschen mehr Geld als sonst dafür ausgeben. – Mutti kommt eben rein und sagt, ich solle nur nicht vergessen Dir noch mal zu sagen, wie sehr ihr die blaukarierte kleine Bluse weiterhilft. Sie trägt sie täglich und kann sie gar nicht missen. Na, und das Pflaster bringt uns nun endlich aus der Angst heraus. Mein Päulekind, und nun will ich für heute aufhören.
Liebe innige Grüsse und viele, viele süsse Küsschen
sendet Dir Deine Anneli
nebst unserer kleinen Mutsch.

An Tante Emmy Erika u. Onkel Erich auch viele liebe Grüsse.

 

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