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Brief (Transkript)

Herbert aus West-Berlin an Walter G. nach Kirchheim am 27.05.1953

 

Berlin, den 27.V.1953

Lieber Walter!
Du wirst Dich wundern von mir aus Berlin Post zu bekommen. In den letzten Tagen war ich oft in den Messehallen, in denen wir den Kirchentag erlebten
Am 19.5.1953 haben wir das Gebiet der DDR verlassen. Man nennt uns drüben „Republikflüchtige. Ihr habt dort bestimmt viel über den verstärkten Kampf der FDJ und SED gegen die „Junge Gemeinde“ und gegen die „Studentengemeinde“ gehört. Uns bezeichnet man als Verbrecher, Saboteure, Spione usw. Wir sind also der Abschaum der Menschheit. Leider lassen sich so viele Menschen von diesen Lügen beeinflussen. So wurde ich denn auch vom Personalleiter der Rbd. in dieser Angelegenheit angehauen. Er wollte, daß ich verleugne. Das konnte ich nicht. Am 11.5. erhielt ich dann meine Kündigung. Als Entlassungsgrund hat man „Einsparungsmaßnahmen“ eingesetzt. Auch in anderen Betrieben, wo ich wegen Arbeit vorsprach, begegnete man nur mit Achselzucken. Dann wurde uns bekannt, daß bei verdächtigen Personen der Personalausweis abgenommen werden sollte. Daraufhin sind wir dann abgehauen. Vielleicht wird mir mancher in der DDR Feigheit vorwerfen, aber ich habe an meine Frau und meine Kinder gedacht. Soviel ich bis jetzt feststellen kann ist das der mir vom Herrn gewiesene Weg. An dem Tag, an dem ich hier zur Vorprüfung mußte, wurde mir im Lehrtext zugerufen: „Sorget nicht.“ Und ich bin der Ansicht, daß an diesem Tage bereits die Entscheidung gefallen ist: anerkannt oder nicht. Ja, lieber Walter, vielleicht kannst Du bald Dein Patenkind sehen. Wer hätte das gedacht. Ich will versuchen in das Rheinland zu kommen. Aber auch in dieser Beziehung lasse ich mich führen. Wenn ich als Eisenbahner wieder Arbeit finde, ist es mir ganz gleich, wohin ich komme. Sonst ist es ganz gut, wenn man einige Bekannte dort hat.
Ich will hoffen, daß der Abflug durch Krankheiten der Kinder nicht verzögert wird. Du kannst Dir sicherlich vorstellen, daß solch eine Anhäufung von Menschen die Quellen ansteckender Krankheiten sind.
Meine Eltern, Schwiegermutter und Geschwister habe ich in Greifswald zurücklassen müssen. Hoffentlich haben sie durch meine Flucht keine Unannehmlichkeiten. Sie werden es dort nicht einfach haben, denn der Terror verschärft sich mehr und mehr. Auch die Ernährungslage wird drüben immer schlechter. Hoffentlich dauert deren Regime nicht mehr so lange. Dann kann man nur sagen: „Gnade ihnen Gott.“
Lieber Walter, ich möchte nun schließen. Denkt bitte in Euren Gebeten an die Brüder und Schwestern in der Ostzone. Sie haben jetzt einen schweren Kampf gegen Lüge, Ungerechtigkeit und Gewalt zu führen. Denke auch an uns, daß wir gesund rüber kommen und einen neuen Wirkungskreis finden. Recht herzliche Grüße soll ich von meiner Frau, Renate, Ursula und Waltraud bestellen.

Herzliche Grüße und alles Gute
sendet Dir
Dein Herbert

 

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