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Brief (Transkript)

Oskar H. aus Meckenheim an Marie Louise P. nach Zittau am 16.12.1972

 

Meckenheim, den 16.12.72.

Dear Mrs. P.!

Es war wirklich wieder einmal eine ziemlich lange Pause seit meinem letzten Brief. Doch habe ich seit den Sommerferien überhaupt nur sehr wenig geschrieben. Ich weiß eigentlich auch nicht warum. Die Schreibmaschine war einige Zeit in Reparatur. Aber sie ist schon lange wieder hier und heute schreibe ich zum ersten Mal darauf. Manchmal legt sich die Umwelt wie Schlingen um Arme und Beide, sodaß wir garnichts tun können. Jedenfalls nicht das, was wir eigentlich möchten. Und ich möchte oft gerne Briefe schreiben.
Inzwischen ist auch eine Menge geschehen, was zumindest Grund zum Gespräch bietet. Ein Volk, das sicher immer besonders mokiert hatte darüber, daß wir dem Hitler so auf den Leim haben gehen können, ist einer Propaganda erlegen, welche an Dummheit und Kurzsichtigkeit der deutschen Kriegspropaganda in nichts nachsteht. Ich meine die Norweger, welche zu einer Volksabstimmung um den EWG Beitritt aufgefordert worden waren. Die EWG-Gegner haben gesiegt mit Parolen wie: Wir wollen keine katholischen Weinsäufer werden! und Plakaten auf denen Brandt, ausgerechnet Brandt, mit Stahlhelm und Hakenkreuz abgebildet war. Und unsere Bundestagswahl war ja auch nicht durch den Verstand sondern durch Emotionen bestimmt. Abgesehen von dem Vateridol Brandt, das die Leute getäuscht hat, waren es durchaus ehrenwerte Motive, welche die Leute bestimmt haben. Endlich Frieden auch nach dem Osten. Mehr Menschlichkeit, Politik der kleinen Schritte zur Annäherung.
Aber wird ihre Entscheidung richtig sein? Ich zweifele sehr daran. Die plötzlich leichten Erfolge werden die Verhandlungspartner kaum friedlicher machen. Im Gegenteil, man wird auch das noch zu erreichen suchen, was man jetzt noch nicht erreicht hat. Das dürfte in erster Linie die DDR betreffen.
Unsere eigenen Partner im Westen sehen die Entwicklung leider so ungern nicht. Ihnen ist der Russe an der Elbe immer noch das kleinere Übel als etwa eine Wiedervereinigung.
Man könnte dem Ganzen auch gute Seiten abgewinnen, wie zum Beispiel bessere Durchlässigkeit der Grenzen und damit eine langsamere Entfremdung. Aber wer kennt nicht das Raffinement der dortigen Behörden und Parteiapparate Verpflichtungen dem Buchstaben nach zu erfüllen und ihnen dabei in Wirklichkeit das Leben zu nehmen. Doch mag ja auch ein gesteigertes Selbstbewußtsein einen Abbau der bisherigen so kleinlichen Aggressivität bedeuten, wenn auch vorläufig die Zeichen eher nach Betrug als nach Solidarität aussehen.
Auch die Tchechei wurde ja in einem großen Stile betrogen.
Das also wird einmal das Jahr 1972 gewesen sein: Schwäche und Euphorie im Westen und Betrug aus dem Osten.
Nur eine kleine Schadenfreude bleibt: Die ehemaligen Kriegsgegner verlangen Reparationen als Preis für die Anerkennung der DDR. Ob sie zahlt? Für Stoph wird das hart, weil er der wirtschaftlichen Erpressung durch die Russen nicht ausweichen kann, seine ergeizigen Ziele nicht aufgeben will und sich gleichzeitig gezwungen sieht die Stimmung im eigenen Lande durch bessere Versorgung zu heben. Das alles ohne Verminderung der Verteidigungsanstrengungen gegen die Windmühlen.
Über manches in der Welt könnte man wahrhaftig lachen, wie über die Reden und Streiche von Schuljungen, wenn nicht der Verdacht immer wieder genährt würde, daß zwischen den Sowjets und den Amerikanern eine Verständigung erreicht werden könnte, welche Westeuropa bezahlen müßte
Glücklicherweise sind wir in der Sache nicht allein. Westeuropa macht große Anstrengungen zur Integration. Dazu könnten allerdings ein paar Emotionen und etwas mehr Begeisterung nicht schaden. Doch auch ohnedies sind die Kräfte der Integration sehr stark. Ob es nun ein „Europa der Vaterländer“ oder ein „Vaterland Europa“ gibt, das wird sich zeigen. Die Schnelligkeit und die Schmerzen dieser Entwicklung kann niemand voraussagen. Sie wird hoffentlich abgeschlossen sein bevor die Stürme aus der dritten Welt alles vernichten kann.
Allerdings: ob die Welt von Morgen mehr Gerechtigkeit und Humanität aufweisen wird, glaube ich kaum. Es werden wieder die Starken stärker und die Reichen reicher werden. Worauf warten wir eigentlich?
Vor 14 Tagen trugen im Kindergottesdienst vier Kinder je eine Kerze vor den Altar: die Kerze des Vertrauend, der Freude und des Friedens. Schliesslich die „Osterkerze“, die Kerze der Hoffnung. In drei kurzen Spielscenen wurde nun von anderen Kindern dargestellt, wie in ihrer Welt das Vertrauen mißbraucht, die Freude getrübt und der Friede gebrochen werden kann. Jedesmal danach wurde eine Kerze ausgelöscht. Schließlich brannte nur noch die eine die Christuskerze, welche Ostern feierlich angezündet worden war und seitdem in jedem Gottesdienst brennt. An der Kerze der Hoffnung konnten schließlich alle gelöschten Kerzen wieder angezündet werden.
Ganz tief in uns bleibt die Hoffnung lebendig, daß das Gute erhalten bleibt. Daß es nicht sterben kann, daß es sich immer wieder durchsetzt, daß der glimmende Docht nicht ausgelöscht wird. Trotz der Mächtigen, welche alles vernichten, das ihnen widerstehen könnte, trotz des Eigennutz der Reichen, trotz der Gierigen.
Ich wünsche Ihnen für dieses Fest, daß Sie teilnehmen können an der Hoffnung auf das Leben. Ein Leben in einer Welt, welche uns nur geschenkt werden kann.

Es grüßen

NB ein Paket ist auf der Reise. Mögen Sie sich freuen daran.

 

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