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Brief (Transkript)

Eugen an Hans am 24.12.1942 (3.2002.0210)

 

Am 24. 12. 42



Lieber Hans!

Ich wollte schon hadern, weil ich gar keine Post vor Weihnachten kriegen sollte. Nur alle drei Tage Hoffnung, daß etwas kommen kann, und in dieser letzten Hoffnung noch enttäuscht werden...! Aber als ich gestern nach ‘langer’ Abwesenheit von ‘zu Hause’ wieder in meine Behausung kam, war etwas da! Na, und als ich dann Deinen schönen Weihnachtsschnitt auspackte, der jetzt als einziger Wandschmuck vor mir angeheftet ist, war ich vollkommen ausgesöhnt! Er ist sehr schön geworden! Man merkt an dem Kopf der Madonna, daß Du beim Kopfzeichnen sehr viel gelernt hat! Er ist noch typisch, hat die einfache Kraft des Holzschnittes - und ist doch im Ausdruck schön bewegt, lebendig, ohne doch schließlich wie ein Porträt zu sein. Aber was rede ich da vom Tun, wo er doch so schön ist! Also meinen herzlichen Dank. Ich bin sehr froh. Und nun kann Weihnachten werden. Der Russe ist auffällig ruhig - wir wollen nicht hoffen, daß das die Ruhe vor dem Sturm ist. Die Fronten sind ja bewegt und stürmisch genug. Wie viele unserer Kameraden, die auch diesmal wieder, die Waffe in der Faust, zwischen Tod und Unbill, zwischen Angst und Tapferkeit dieses Fest erleben müssen - möchten sie es trotzdem, in irgend einem Winkel ihres Herzens, erleben. Das Schwert, das die Menschen gegeneinander erhoben haben, ist ja auch Gottes Schwert, - Vorgestern haben wir sogar schon auf ganz besondere Weise Weihnachten feiern können: bei mir war Meßfeier, in diesem Raum, in dieser Hütte! Der Kriegspfarrer kam bis zu uns herunter. Es war sehr schön. Der Pfarrer war ein Bayer, und die Bayern sind Kerle - sie gefallen mir alle - sie haben eine derbe strotzende Lebenskraft - und sie haben Herz.
Der protestantische Pfarrer ist Schwabe. Gestern haben wir unseren General bestattet, deshalb war ich draußen. Der General, erst kurze Zeit bei uns, hatte sich sehr schnell - noch ohne daß wir ihn von Angesicht zu Angesicht kennenlernen konnten - unsere Herzen erobert. So sehr spürte man überall seine ordnende Hand. Media in vita - kam zu ihm nicht die tödliche Kugel, sondern ein Schlaganfall nahm ihn mitten im Wirken, vorne in den Linien, hinweg. Er muß sich wohl, bei schwacher Gesundheit, aufgerieben haben. Der Pfarrer also hielt die erste Ansprache. Man ist ja selber, leider Gottes, immer zu sehr Zuschauer, um nicht alles Geschehen, alle Zufälle, alle Ereignisse mit den Augen zu verfolgen. Wie nun der Pfarrer seine Sätze sprach, voller Form, abgewogen, biblisch und streng, in einer Haltung und in einem Ton vollnüchternem Pathos - das imponierte mir. Und trotzdem war das Erhabene so angespannt, die feierliche Haltung so betont, daß sie leicht reizte... und in den Beurteilungen, die Leute von beiden Pfarrern abgeben, kommt das zum Ausdruck. Mir scheint, in diesem Schwaben kommt sehr das Verstiegene zur Geltung, und seltsam steigt bei diesem Volksstamm aus gleichem Grundgefühl technisches Spintisieren, rastlose Werktagsarbeit wie geistige Überspannung. Kurz und gut: ich lobe mir doch auch meinen Bayern, bei dem alles unbekümmert über die Zunge rutscht, ohne formale Abgewogenheit - aber das Herz wiegt ja auch nicht. Es ergreift oder weist ab.
Ganz anders, da ich nun mal bei meiner ethnologischen Betrachtung bin, die Grobheit bei den Schwaben, wenn sie grob sind - und das sind sie meistens. Ich beobachte diese Untugenden bei meinem Wichser. Eine Formlosigkeit, die einem auf die Nerven gehen kann:sie ist nicht so sehr der Ausfluß einer derben Herzlichkeit, einer robusten Kraft; sie ist - Formlosigkeit, wo die andern eben die ‘Form’ ihrer rustikalen Ungeschlachtheit haben. Die mir sehr lieb ist. Ich erinnere mich noch an den letzten Abend im Lazarett in Nikolajewka, wo wir uns einige geistige Getränke organisiert hatten, die unsere sangesfrohen Kehlen zu lauten, ach zu lauten Kantaten anschwellen ließen. Unser Schnäpser, ein Gebirgsjodler, schlug die Zither und verdrehte die Augen (wenn er sie nicht vor lauter Rührung) geschlossen hielt, wie ein balzender Auerhahn. Er war Bayer - von denen rede ich ja! Als nun die Feier auch auf den Gängen stattfand und das Gejodel einem der Ärzte wohl zu laut wurde, der von unten herauffragte, was da oben los sei - da meinte unser Schnäpser: Komm doch rauf, wenn Du was willst. Auf Saubayrisch natürlich. Na, der Gute hatte den medizinischen Würdenträger wohl nicht gekannt, und beide gingen laufen, alle drei (ich war auch dabei; der andere war ‘Paul’ aus Hamburg, ein junger Leutnant und ein frecher Lausbube). Alles stürzte ins Zimmer, Licht aus, der Schnäpser kroch unter die Betten. Er meinte dann nachher: Wenn du als Leutnant laufen gehst, muß ich als Gefreiter auch fort...
Ich verliere mich in meiner eigenen Erzählung. Ich wollte nur ‘herausarbeiten’, wie das selbstverständliche Du allerseits - selbstverständlich war. Von anderen Untergebenen wäre es eine Unanständigkeit gewesen. Ich muß immer lachen, wenn man mit Hinterwäldlern zu tun hat, die das hochdeutsche Sie gar nicht kennen und alle duzen. Die anderen lachen - aber ich lasse dann nie etwas merken.
Die Leute sind vielfach doch in der Wurzel gut. Kam jüngst einer vom Urlaub zurück. Ich fragte nach diesem und jenem, nach seiner Frau. Da kam ihm etwas in die Stimme. Ich fragte natürlich nicht weiter, und sah auch nichts, sah auch natürlich nicht, wie er sich eine Träne aus dem Auge, aus seinem einen Auge wischte. (Er hat nämlich nur ein Auge!)
Ja, da ist mir der Faden mit dem ‘Gang der Handlung’ durch gegangen. Und auf so ausgefallene Sachen komme ich im Weihnachtsbrief. Und wehe, wenn meine schwäbischen Freunde erführen, wie ich ihren Stamm schlecht mache... aber wir haben uns gemeinsam ja oft genug darüber unterhalten. Aber ach, noch ein Wort zu den beiden Päckchen, die ich gestern bekam, beide von jungen Weibsen, von P. , die sich von Hause eine Marke besorgt hat, und von der Malerstochter aus Wien, die sich, weiß der Himmel woher, eine Marke besorgt hat und mich nebst süßer knuspriger Fracht mit schönen Buchsendungen. Tja - was macht man da? Annehmen. Ich weiß nicht, ob es Dir auch so geht: bei jedem Geschenk fühlt man sich etwas schuldig... und denkt nach, wie man solche Schuld wieder abbüßen könnte. Und bei Weibern - ist das doppelt schwierig. Manchmal möchte ich diese ganzen Süßholz-Episteln stracks abbrechen... aber geht das? Meine weiteren Betrachtungen über diesen Punkt nächstens. Ob du weißt, wohin ich ziele - oder besser: daß ich mich selber als Ziel verbergen möchte. Denn man wird vorsichtig. Und man ist ‘innerlich’ so unbeweibt, daß... usw. Da hast Du es ja einfach. Ich muß immer lachen, wenn Baur von ‘Zuhause’ schreibt und über seinen ‘famosen Einfall’ vor dem Kriege zu heiraten. Na, Glück zu. Ich weiß gar nicht, ob ich Dir geschrieben habe, daß ich Onkel und Patenonkel zumal geworden bin. Mein Bruder Alfons hat einen kräftigen Stammhalter bekommen. Wahrscheinlich aber weißt Du gar nicht, daß er seit dem Frühjahr verheiratet ist. Er ist in meiner selben Armee, weiter nördlich. Euer Heinz muß übrigens auch ‘hier’ sein. Er ist nun Feldwebel geworden. Wir beiden sind zwar früher auch keine ‘feindlichen Brüder’ gewesen, aber wir waren uns doch ferner in unseren Veranlagungen. Aber die Zeit und unsere eigene Entwicklung hat uns doch nahe zusammengebracht - so ist denn
auch der Patenonkel zu verstehen. - Bei dem Ereignis empfand ich denn auch in unserer so wenig heiratslustigen Familie die Freude der Mutter, wollte sagen: Großmutter - eine sehr tiefe Freude, wie sie bei der Schöpfung eines neuen Menschen gegenwärtig ist, die Freude am Fleisch, dem Gott eine Seele einhaucht. Man hat die Empfindung, wie zutiefst doch eine Befriedigung und ein Glück darüber gemeinsam ist, daß man bei der Schöpfung von Leib und Seele, wenn ein neuer Mensch in die Welt tritt, dem lieben Gott mithelfen darf. Wie sonst könnte man anders beobachten, daß die Väter, die jungen ernsthaften über ihren kleinen ‘gelungenen’ Nachkommen so freudig sind! Vielleicht liegt auch über dem Weihnachtsfest dieser ‘familiäre’ Schimmer, dieses Vertraute, Geborgene, Mütterliche, Kindliche. Das große unbegreifliche geschieht unter uns - und in unserer Gemeinschaft, der des Blutes, der des Geistes, - nehmen wir das Unbegreifliche, als sei es uns sehr und schon seit langem vertraut.
So bin ich durch das Labyrinth meiner Epistel doch noch zum Weihnachtsbrief gekommen: bei allem Verkehr, bei den Besprechungen, Anordnungen und so weiter. Also - es ist Mittag. Nun ist das Schreiben zu Ende. Unendlich sollen meine Wünsche für Dich sein, und alle herzlichen Grüße zum Neuen Jahr, das mystisch aus den Trümmern des vergangenen aufsteigt. Heil! Viele Grüße immer
Dein Eugen

 

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