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Brief (Transkript)

Therese H. aus West-Berlin an Annegret S. nach Ost-Berlin im Jahr 1962

 

[1962]

Meine liebe Anne!

Bitte bitte, verzeihe mir noch ein einziges Mal! Es ist wirklich nicht nur Schreibfaulheit. Ich bin einfach abends nicht in der Lage noch Briefe zu verfassen. Dabei nehme ich es mir laufend vor, aber es ist eben wie es ist. Na, heute will ich mal bissel nachholen. Allerdings gibt es gar nicht so sehr viel zu berichten [?]. Man hatte vor 3 Wochen meinen lieben Mann angefahren. Dabei entstand ein Sachschaden von 1500,- DM. Ein vollbeladener Müllwagen ist uns hintenrein gefahren. Gottlob kam mein Mann mit einigen Quetschungen und Prellungen davon! Ich habe sowieso immer Angst. Es passiert zu viel! Mir persönlich geht es soweit ganz gut. Die Arbeit reißt nicht ab. Im Geschäft ist wirklich viel zu tun. Die Arbeit wird laufend mehr, das Personal bleibt dasselbe. Vielen Dank übrigens für Deine Briefe. Es freut mich, daß Du Dich über mein Päckchen gefreut hast. – Wir hatten von Freitag vor Pfingsten bis Freitag danach Besuch aus Mannheim – meine Schwiegermutter! Es war teils anstrengend, teils erholsam für mich. Besuch bringt halt immer etwas Unruhe in den gewohnten Tagesablauf, man muß sich anders benehmen, als es sonst der Fall ist. Andrerseits hat sie mir alle Hausarbeit abgenommen, sie wurde direkt böse, wenn ich mich in der Küche nur zeigte. Das Essen war vorzüglich, ich habe bestimmt zugenommen. Ich schreibe übrigens an der Havel. Wir sind heute 9.00 losgezogen, haben tatsächlich für unser Auto noch einen Parkplatz und für uns selbst eine Liegestatt gefunden. Das Wasser soll herrlich sein, nachher werde ich es ausprobieren. Ich freue mich schon. Übrigens habe ich einen sehr feschen Badeanzug erstanden – tiefen Rückenausschnitt, lila zu lila verschwommene Ornamente. Es war gar nicht so einfach etwas passendes für mich zu finden, denn entweder war die Brust zu eng oder die Taille und Hüfte zu weit. Jetzt bin ich zufrieden, den Blicken nach zu urteilen, die mir folgen, muß ich eine gute Figur machen! – Einen feschen Bademantel habe ich auch bekommen. So nach und nach will man mit Macht eine Dame aus mir machen, denn auch sonst hat sich einiges getan. Z.B. trage ich fast nur noch hochhackige Schuhe, weil Fritz und Günther meinen, daß meine [?]beine damit noch am ehesten zu ertragen wären. Zu meinem weißen Flauschpaletot will man mir unbedingt einen Pepitahut verpassen, gottlob bewahrt mich meine Frisur davor, denn das wäre zuviel des Guten. – Ich mit Hut und Handschuhen – einfach zum totlachen! – Hoffentlich langweile ich Dich nicht?? – Zu Himmelfahrt habe ich auch an Sehlis gedacht. Seit wir weg sind, ist nichts mehr los da unten! – Bei Irmgard stehe ich in der Kreide in puncto schreiben, aber ich habe deshalb kein schlechtes Gewissen, denn oft war es andersrum. – Renate hat mir auch geschrieben. Sie hatte nämlich einen Brief von mir an Irmgard aufgemacht, natürlich gab es einen riesen Familienkrach und nun hatte sie ein schlechtes Gewissen! Da ich aber aus meinem Herzen keine Mördergrube mache, kann sie ruhig wissen, was ich Irmgard zu sagen habe, ich bin ihr keineswegs böse! – Hoffentlich kriegt Irmchen jetzt eine Arbeit, die sie ausfüllt, denn es war ja schon ganz schlimm mit ihr! – Ansonsten gibt es nicht viel zu erzählen. Unsere Wohnung ist bestens und es tut mir richtig weh, daß Du sie nicht mitgenießen kannst. Zum Wochenende könntest Du bei uns schlafen und sonntags mit uns baden fahren. Platz hätten wir. Es ist schon eine verdrehte Welt. Ich habe auch gar keine Hoffnung, daß sich da etwas ändern könnte!
So, sei liebst gegrüßt, grüße auch die durchreisende Familie herzlichst von uns
Deine Therese

Anbei ein Foto von Tinchen! Ist die Ähnlichkeit mit Vater und Gabi nicht verblüffend?

 

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