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Brief (Transkript)

Therese H. aus West-Berlin an Annegret S. nach Ost-Berlin am 04.01.1961

 

Berlin, den 4.1.61

Meine liebe Anne!
Soeben erhielt ich Deinen lieben Brief. Zuerst aber auch Dir erst noch ganz herzlichen Dank für Deine Wünsche zu Weihnachten und zum Jahreswechsel. – Also – und das zunächst grundsätzlich – Du bist bei uns jederzeit willkommen – also auch in der Nacht vom 14. zum 15.1. Wir freuen uns schon auf das Hiersein von Dir! Was aber Deine freudigen Hoffnungen auf die Bevernstr. betrifft, muß ich Dich sehr enttäuschen, denn wir hoffen sehnlichst, daß wir im Frühjahr eine eigene Wohnung bekommen!! Aber Du wirst Dich doch hoffentlich auch dort dann wohlfühlen?! Jedenfalls ist es eine ganz prima Sache, wenn wir Dich hier so schön in der Nähe haben können. Endlich können wir dann mal wieder was gemeinsam unternehmen, das wird auch höchste Zeit.
So, jetzt bekommst Du noch einen Überblick von unserem Leben während der Weihnachtstage und Silvester: Zunächst hatte ich ja doch etwas Sorge vor der Stimmung, die bei uns herrschen würde, aber dann wurde es doch weitaus netter, als ich ahnen konnte. Zu Heilig Abend waren wir bei D. eingeladen. Daselbst, während sich die Familie noch mit Geschenken usw. beschäftigte, habe ich mich still am Fernseher niedergelassen, Ostfernsehen eingeschaltet und eine ganz prächtige Butterflyaufführung genossen. Es sang meine Superspezialbusenfreundin Ingeborg Wenglor! Es war ein Hochgenuß. Ich war so egoistisch, daß ich dieses Programm wie eine Löwin verteidigt habe. Man duldete es schließlich stillschweigend! G.s hatten es an diesem Tage doch vorgezogen ins Bett zu gehen. Am ersten Feiertag bin ich schon ziemlich zeitig aufgestanden, denn meine hausfraulichen Pflichten waren zu belastend. Ich heizte also mit Günthers gütiger Unterstützung den Küchenofen. Innerhalb einer knappen halben Stunde stand dann auch schon die gesamte Küche unter schönem dichten schwarzen Rauch. Das kam daher, weil der besagte Ofen keine ganz vollständige Platte mehr besitzt, sondern die Löcher nur notdürftig mit Ziegelsteinen zugedeckt sind. Wir fühlten uns in die Zeit der alten Germanen versetzt, wo man Gänse über offenem Feuer am Spieß gebraten hat. Ja, ich hatte nicht nur vor eine Gans zu braten, sondern ich bekam zu allem Übel auch noch Gäste zum Mittagessen, und ich wollte mich natürlich nach möglichkeit nicht allzu sehr blamieren. Bei der Firma G. wäre es ja halb so schlimm gewesen, aber seine Mutter kam mit. Ich schwitzte also einigermaßen Blut, aber schließlich ließ die Qualmerei doch nach und ich konnte wieder einzelne Gegenstände in der Küche unterscheiden. Anne, Stell Dir bitte gut vor – die erste Gans meines Lebens, dazu Gäste und die Tücke des Objekts! Vorsichtshalber gab ich mir daher besondere Mühe bei der Zubereitung von Rotkohl und Nachtisch. Außerdem war der Wein sehr gut. Aber – oh Wunder – auch das Vögelchen war ganz ausgezeichnet gelungen, sah fantastisch braun aus, war knusprig und schmeckte wie zu Hause! Ich erntete großes Lob von allen Seiten, sogar Günther sparte nicht damit. (Das will schon was heißen!) Den Nachmittag verbrachten wir sehr geruhsam, denn wir waren alle so vollgefressen, daß wir uns kaum bewegen konnten. Das liebe Fernsehen beschenkte uns aber auch mit einem ganz reizenden Film: Don Camillo und Peppone! In kirchlichen Kreisen würde man sagen – ein sehr feiner Film! – Am zweiten Weihnachtstag haben wir dann fast bis zum Mittagessen geschlafen, nachmittags waren wir dann bei G.s versammelt, desgleichen am Abend. Damit waren ja nun schon die Tage vorbei, aber Günthers Geburtstag haben wir dann auch noch friedlich begangen. – Beide Familien waren immer bemüht, die anderen zum Abendbrot einzuladen, denn wir hatten uns beide beim Einkauf etwas verplant. Aber es ist nichts umgekommen. Silvester waren wir auch nur unter uns Vieren. Sehr nett, sehr ruhig, sehr lieb! Das war ja um Mitternacht eine Pracht hier in Berlin, das reinste GrOßfeuerwerk, aber auf der Straße kein Gegröle und Getobe etc. – Du siehst also, bei uns war es auch ganz nett. Man muß eben verstehen, es sich bissel gemütlich zu machen. – Hoffentlich geht es Deiner Frau Mama wieder ganz gut. Grüße sie bitte ganz besonders herzlich von mir! – Hat eigentlich Taucha die schöne alte Sitte des Straßenbahnsingens am Heilig Abend noch beibehalten? Hier gibt es auch so eine nette Sache: Es werden die Verkehrspolizisten beschenkt. Das sieht lustig aus, wenn die Autofahrer schnell an der Ampel vorbeifahren, ein Paket rausgeben und fröhliche Weihnachten wünschen.
So, alles andere kann ja bald mündlich betratscht werden. Ich freue mich jedenfalls schon sehr auf Dein Kommen. Für heute nun ganz viel liebe Grüße – auch von Günther

Deine Therese

 

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