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Brief (Transkript)

Anneliese H. aus Neu-Kosenow an Paula M. nach Hamburg am 23.05.1946

 

Neu-Kosenow, den 23. Mai 1946

Mein liebes, süsses Tante Päulchen!
Vor 5 Tagen kam Dein liebes Päckchen mit Erikas Geburtstagsgeschenk bei mir an. Ach, Päule, der Schlafanzug ist ja viel zu schön für mich. So etwas bin ich ja gar nicht mehr gewöhnt. Wie freue ich mich, mal wieder so etwas hübsches anziehen zu können. Sag’ Erika, dass ich ihr ganz, ganz lieb dafür danke. Du weisst ja, wie sehr ich mich dazu freue und glücklich darüber bin. Als Tante Lene den Schlafanzug sah, meinte sie: „Na, der Schlafanzug wäre ja auch nicht nötig gewesen. Lieber hätten sie Dir eine Bluse schicken sollen. Darüber kann ich mich nicht freuen.“ Na, sie soll sich ja auch nicht freuen, aber mir kamen doch die Tränen als sie das sagte. Sie ist eben so ganz anders als wir. Mutti sehnt sich auch so sehr wieder nach einem eigenen Haushalt. Sie arbeitet sich ja auch kaputt hier und dann wird nur über unsere Arbeit getottert. Ach, es ist ja so schwer. Ich bin nun schon in Anklam und Greifswald gewesen, um mich bei den dortigen Postämtern um eine Anstellung zu bemühen. Beides erfolglos. Im ersteren herrschen noch derartige Zustände, dass ich dort nicht arbeiten kann ohne dauernd in Gefahr zu stehen mit gewissen Leutchen in nähere Beziehung zu geraten. Und dazu ist mir meine wiedergefundene Gesundheit zu kostbar. Lieber esse ich noch Tante Lenes bitteres Gnadenbrot. Und Greifswald darf mich nicht einstellen, weil ich nicht in Greifswald wohne. Du kannst Dir denken, wie niedergeschlagen ich nun bin. Ich möchte doch so gerne meiner süssen Mutti wieder zur eigenen Wirtschaft verhelfen, aber das Schicksal will es wohl noch nicht. Tante Lene sagt nun, ich hätte mich schon eher melden müssen. Aber ich war doch so lange dauernd krank. Es ist zum Verzweifeln. Zu Tante Lenes Geburtstag war Onkel Bernhard hier. Er brachte mir die Schuhe und die Taschentücher mit. Meine Süsse, hab innigen Dank dafür. Nun frieren mir im Winter doch meine armen Füsschen wenigstens nicht mehr. Die Schuhe passen gut, wenn ich noch ein paar Söckchen rein ziehe. Onkel Bernhard meinte, ich hätte ja noch so viel zum Anziehen gerettet. Komisch, alle Menschen sagen, ich hätte so viel zum Anziehen. Jetzt glaube ich es auch bald. Ich bin jetzt vollkommen überzeugt, dass die arme Lucie und Hildegard gar nichts anzuziehen haben. Nun lache bitte nicht. Am wenigsten anzuziehen hat ja nun Tante Lene. Päule, sie hat Mutti eine alte Hose zum Rock und mir ein Stück von Morgenrock zum Kleid gegeben, das spottet jeder Beschreibung. Die Hose hat ihr Ukrainer getragen und der Morgenrock hat zerfetzt auf dem Misthaufen gelegen. Frau K. will ihr Möglichstes versuchen, etwas davon herauszuzaubern. Mutti sagte, das müssten wir mal Tante Paula hinschicken. Die würde die Hände über dem Kopf zusammenschlagen. Welch Zähnezusammenbeissen kostet es, solche Sachen dankbar und höflich annehmen zu müssen. Und Du weisst ja, welche gönnerhaft grossmütige Miene Tante Lene dann dabei aufsetzen kann. Na, Gott gebe, dass sich die Zeiten mal ändern. Augenblicklich ist es hier mal wieder sehr unruhig. Tagtäglich ist die Chaussee mit Kolonnen abziehender R. gerappelt voll. Neulich haben wir in einem Zug 1500 Pferde gezählt. Also eine Strecke von Anklam bis Ducherow. Ich lasse mich gar nicht auf der Strasse sehen. Brot holen muss Mutti. Was mag das bloss alles noch geben. Ich möchte am liebsten in einem Mäuseloch sitzen. Diese Angst braucht ihr doch wenigstens nicht auszustehen. Neulich kam ein R. morgens hier in die Küche und brüllt Mutti an: „Frau, wo Tochter?“ Ich war gerade beim Waschen und stand splitterfasernackt mit beiden Beinen in der Wachschüssel. Wie ein geölter Blitz schoss ich unter das Bett als ich das hörte. Mein Herz schlug wie ein Pferdefuss. Nach tollem Angebrülle stellte sich dann schliesslich heraus, dass Mutti zum Kartoffelschälen kommen sollte. Und deshalb nun diese Aufregung. Ich habe am ganzen Tag von dem Schreck Bauchschmerzen bekommen. Na, Du weisst ja wie das ist. Vor 14 Tagen hat mir Frau S. aus Zingst meine Sachen geschickt. Das waren meine Bilder und ein paar Briefe von Hähnchen, mein blaues Cloquékleid (ob es richtig geschrieben ist weiss ich nicht) ein grüner Wollschlüpfer, 1 Stück Lavendelseife, der rosa Seidenstoff von Alma N. mit den gehäkelten Passen und Mamas Seidenmantel. So, das ist nun der schäbige Rest von meinem ganzen Koffer. Mir kommt es immer wieder hoch wenn ich daran denke. Ich habe ja wegen der Kofferangelegenheit noch nach Schwerin an die Landesverwaltung geschrieben. Einen Zweck wird es ja nicht haben, aber Mutti wollte es ja so gerne. Den Seidenmantel werde ich Mama zurückgeben, denn sie hat ja wie alle anderen auch noch weniger anzuziehen wie ich. Stell Dir übrigens mal vor, vor 8 Tagen bekam ich von Mama einen Brief, ob ich nicht zu Ihnen kommen wollte und Mama helfen. Ich wäre doch jetzt so schön gesund und könnte so gut dort helfen. Weisst Du, ich habe regelrecht darüber geheult. Als ich krank war, musste Tante Lene mich gesund pflegen und jetzt wo ich arbeiten kann, wollen sie mich dorthin haben. Na, ich habe eine gute Wut. Wenn ich nicht hier bin kommt Mutti mit der Arbeit überhaupt nicht rund. Tante Lene macht doch ausser der Kocherei gar nichts im Haus. Selbst wenn sie nach dem Mittagsschlaf beide aufstehen, bleiben die Decken und Kissen krumm und schief liegen. Mutti und ich müssen dauernd hinterher räumen. Aber Hausarbeit rechnet bei Tante Lene ja nicht. Habe ich Dir eigentlich geschrieben, dass unsere Küche frisch gestrichen ist? Mit dem Abseifen und Aus- und Einräumen haben wir uns auch tüchtig abgeplagt. Aber nun ist doch wenigstens überall Grund. Oben ist die Küche rosa und unten graublau. Sehr hübsch, aber greulich empfindlich. Onkel Bernhard war ganz erstaunt über die neue Pracht. Übrigens befindet sich Hans-Hugo bereits in Kiel und wird demnächst entlassen. Hildegard lässt sich als Schulhelferin ausbilden. Onkel Bernhard hat nur bange, dass sie dabei zu faul und bequem ist. Na, abwarten. Sonst geht es den Stralsundern noch so leidlich. Bloss die Ernährung wird immer schlimmer. Es ist ja alles so wenig. Wir haben in diesem Monat bis jetzt pro Person 100 gr Butter, 450 gr Zucker 125 gr Quark, 500 gr Hafermehl und auf die Fleischmarken 100 gr Käse. Viel ist es nicht, aber besser wie nichts. Fleisch bekommen wir ja gar nicht mehr. Na, hilft nicht. Es kommt doch so, wie es kommen soll. Eigentlich müsste ich ja schon wieder in den Garten. Mutti kommt eben rein, ich soll Tante Lene pflanzen helfen. Heute geh’ ich aber nicht. Alle vier Wochen schreibe ich bloss an Dich und dann kann man mich noch nicht in Ruhe lassen. Mutti und ich kommen beim besten Willen nicht zum Stopfen. Das geht von morgens um 7 bis abends um 10 ununterbrochen. Tante Lene schläft mittags eine Stunde und abends nach dem Essen setzt sie sich auch hin und klönt mit Hermann. Ja, während der Zeit rasen Mutti und ich wie Wahnsinnige rum. Da wollen die Schweine, die Kühe, die Katze, der Hund und unser Ziegenlämmchen gefüttert werden. Die Küche soll in Ordnung gebracht werden und Kartoffeln müssen geschält werden. Das dauert doch alles seine Zeit. Und wehe, wenn wir uns dann nicht beeilen, damit wir dann schnell im Garten helfen können. Ausgerechnet in diesem Jahr müssen wir die Stücken umgraben, wo jahrelang Gras drauf wächst. Mein Gott, Mutti und ich sind doch keine Landarbeiter, dass wir so etwas spielend können. Und dann möglichst erst um 8 Uhr rein, damit wir nicht vor ½11-11 Uhr ins Bett kommen. Ich bin ja [… weitere Briefseite fehlt]

An die lieben drei E`s ebenfalls herzliche Grüsse.

 

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