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Brief (Transkript)

Dieter aus Altenburg an Klaus B. nach Leonberg am 26.10.1989

 

26.10.89

Altenburg nicht mehr im
Abseits

Fast zufällig davon erfahren,hatten Hilu und ich gestern abend Gelegenheit,an der 3.Fürbitt-Andacht der ev.Kirche zu Altenbg. teilzunehmen.Sie fand in der Brüderkirche –am oberen Marktende- s tatt. Als wir den Markt betraten,bot sich uns ein herrliches Bild:Auf den Treppen zur Kirche hoch und dem Vorplatz erstrahlten Hunderte von Kerzen,und es wurden ständig mehr.Eine Stunde vor Beginn war gerade noch ein Sitzplatz zu bekommen,eine halbe Stunde vor Beginn war die Kirche restlos voll.Kurz vor Beginn der „Andacht“ wurde mitgeteilt,daß die Personen,die keinen Einlaß mehr fänden,in die nächste Kirche zu einer gleichen Veranstaltung gehen könnten,die soeben spontan geöffnet würde.Die Kirche war mit schätzungsweise 2.000 Personen gefüllt,besser gesagt,überfüllt,überwiegend Jugendl. und jüngere Menschen.
Zunächst äußerten der Kirche nahestehende Personen ihre Meinung zu aktuellen Tagesproblemen und Möglichkeiten der Lösung Anschließend ergriffen immer Bürger das Wort,zum großen Teil im Staatsdienst bzw.ähnlichen Institutionen tätig.Sie sagten äußerst mutig und frei-mit viel Sachkenntnis-ihre Meinung. Soviel Zivilcourage,wie wir dort erlebten –gepaart mit Selbstbeherrschung- war schon wieder beinahe „Unnormal“,aber beglückend.Wann hat eine Kirche solche brausende Beifallsstürme schon erlebt?!Es wurde kein Thema ausgespart.Interessant fand ich, daß n i c h t die immer wieder angeführte Reisefreiheit im Vordergrund stand,sondern die Sehnsucht nach Demokratie und Mündigkeit jeden einzelnen Bürgers.
Zum Abschluß konnte jeder eine Fürbitte oder einen Protest hervorbringen und dazu eine Kerze auf dem Altar entzünden. Eine Kirche braucht also nicht nur zu Weihnachten im Lichterglanz erstrahlen.Auch wir stellen ab heute allabendlich eine brennende Kerze als Zeichen der Hoffnung in’s Fenster.(wie lange können oder müssen wir das noch ?!)Es wurde noch mitgeteilt, daß am 4.11. 14 Uhr auf Initiative von Theaterschaffenden (nicht von der Kirche) eine Demonstration vom Theater aus gep lant sei.Ob diese nun genehmigt würde,könnte natürlich erst zu diesem Zeitpunkt mitgeteilt werden.Denkt alle an uns ! Am Vorabend ist die nächste Fürbitt-Andacht;wir sind bei allem natürlich mit dabei,wie schon ein Teil der Familie am kommenden Montag wieder in Leipzig.Beim Verlassen der Kirche wurden noch Kerzen verteilt,so lange der Vorrat reichte,2.000 waren es natürlich nicht.
Als wir die Kirche verlassen hatten,stellten wir verwundert fes t, daß alle Besucher in eine Richtung „nach Hause“ gingen – und somit waren wir in der 1.Demonstration Altenburgs.Welch Freude den Mut aller und vor allen Dingen die unheimliche Disziplin der Jugend zu erleben.Als der Zug das Polizeiamt passierte,wurde ein großer Teilder Kerzen in die zu ebener Erde liegenden Fenster und davor gestellt.Kein Polizist war zu sehen.Ein weiterer Teil von Kerzen wurde vor das Rathaus „postiert“. Welch ungewöhnlicher Abend für Altenburg !

Dieter

 

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