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Brief (Transkript)

Friedel H. aus Gotha an Charlotte M. nach Göttingen am 30.12.1989

 

Gotha, am 30.12.1989

Liebe C h a r l o t t e !

Nun geht ein Jahr zu Ende und ich wollte, ich hätte es nie erlebt. Trotzdem möchte ich meine Briefschulden abarbeiten, denn seit meiner letzten Post haben sich ja wesentliche Dinge ereignet, die zwar weniger mein persönliches Leben, als vielmehr die nationale als auch die internationale Seite betreffen.

Doch nun der Reihe nach.

Aus Deinem Brief vom 29.10.89 habe ich eine Frage noch nicht beantwortet, nämlich die nach meinen Kindheitserinnerungen. Zwar habe ich mir Stichworte aufgeschrieben, wenn mir im Laufe des Tages etwas einfiel; direkt daran gearbeitet habe ich aber nicht. Dazu hatte ich einfach noch keine Kraft. Immer sehe ich den Günter in den verschiedendsten Situationen vor mir und kann es einfach nicht fassen, daß es keine Begegnungen mehr geben soll. Aber das war schon vor seinem Tode der Fall. Ich habe doch alles getan für meine Familie, nur dafür habe ich gearbeitet. Nur ein einziges Mal habe ich zurückgeschlagen, als es mir mit den Beleidigungen zu viel wurde. Es gibt ein Wort von Anton Tschechow: „Die größte Beleidigung ist die Gemeinheit.“ Aber ich muß damit fertig werden. Wenn man im Haus nicht so auf mich aufgepaßt hätte, würde ich sicher nicht mehr leben. Zu keiner Zeit ist so viel an meiner Tür geklingelt worden, wie in diesen kritischen Septembertagen. Außerdem hat das Hauslicht Tag und Nacht gebrannt. Na ja, es ist vorbei; trotzdem denke ich manchmal daran, daß es vielleicht besser gewesen wäre. Es vergeht kein Tag, wo ich nicht heule.

Inzwischen habe ich a-uch eine Kollegin aus einem Betrieb gefunden, die mir die Briefkarten ausstanzen lassen will. Hoffentlich klappt es. Gestickt habe ich schon einige Ornamente, aber einkleben konnte ich sie noch nicht.

Was Du in Deinem Brief vom 13.12.1989 avisierst hast, ein Paket, das ist am 27.12.1989 eingegangen. Ich bedanke mich recht herzlich dafür. Es war zwar wieder einmal vom Zoll geöffnet, aber es war alles vollständig und ich habe mich auch sehr gefreut darüber. Jeden Abend muß eine Kleinigkeit an Leckereien daran glauben und ich stelle mir dann immer vor, wie Du vielleicht in Deinem Sessel liegst und – vielleicht dasselbe Programm wie ich im Fernsehen siehst.

Im übrigen sehe ich die stichprobenweise Prüfung der Sendungen über die Post doch als notwendig an. Was an nationalistischen Schriften und auch an Drogen schon alles bei uns „angekommen“ ist, berechtigt die Überprüfungen. D a s will keine der sich bei uns neu etablierten Parteien und Gruppierungen. Die Programme unserer neuen Regierung, die ich bis auf den Herrn Gerlach von der LDPD schätze, ist mindestens eine gute Grundlage für die weitere demokratische Entwicklung. Ich war richtig froh, als auch einige Herren der sogen. Blockparteien der Inanspruchnahme von Privilegien und des Machtmißbrauchs bezichtigt wurden. Da ich einige Mitglieder der LDPD sehr gut kenne, kann ich mir nämlich nicht denken, daß diese „Entwicklung“ an den reichsten Leuten der DDR vorüber gegangen sein soll. Mal sehen.

Ich bin der Auffassung, daß Repräsentanten eines Staates, gleich welcher politischen Gesellschaftsordnung, nicht im Hinterhof wohnen sollen. Aber was sich in unserem Staat abgespielt hat, geht weit über das normale hinaus. Aber noch schlimmer ist, daß unsere Volkswirtschaft am Boden liegt. Goethe soll einmal gesagt haben: Mit Zahlen läßt sich’s trefflich streiten.“
In einem Gespräch mit einem ehem. Dozenten der Finanzschule, jetzt Rentner, bin ich auf den Wohnungsneubau eingegangen und habe gesagt, daß man nach v o r n e 1000 Wohnungen im Neubau geschaffen hat, sich daran berauschte und nach h i n t e n sind 500 WE verfallen. Das kann ich sogar an konkreten Beispielen beweisen. Man braucht dazu nur den nördlichen Teil des Stadtzentrums, das gesamte Ostviertel sowie neuerdings auch das Nordviertel zu betrachten. Sicher ist es einfacher, in Blockbauweise Neubauten zu errichten als Altbauten zu modernisieren und zu rekonstruieren. Aber haben unsere Bauleute kein Gehirn zum Denken? Außerdem kommt noch das architektonische bei uns in Gotha hinzu. Vollkommen fehl am Platze sind die Hochhäuser zwischen Garten- und [?]straße. Ich kann zwar kein anderes Rezept für diese Straße geben, dazu müßte man sich eben mit erfahrenen Städten beraten. (Z.B. einige Städte im Harz). Ich hoffe nur, daß einige Eckhäuser stehen bleiben und als wesentliche Gestaltungsmomente des Stadtbildes insgesamt einbezogen werden.

Es sei noch nebenbei bemerkt, daß die Infrastruktur z.B. in unserem gesamten Neubaugebiet West nur Stückwerk ist. So ist die gastronomische Versorgung für ein Stadtgebiet von mindestens 16.000 Einwohner mit schätzungsweise 5.000 Jugendlichen und mindestens 1.000 bis 1.200 Rentnern ein Witz. So mußte ich meine Weihnachtsfeier mit den Rentnern unseres Wohnbezirkes für das Jahr 1990 schon ein Jahr v o r h e r anmelden! Für 1989 hatten wir nämlich durch die bummlige Arbeit des Vorsitzenden des Wohnbezirkes bald keinen Tag, bzw. nur einen Werktag bekommen. Einen Ort, wo man mal mit den Rentnern außerhalb der obligatorischen Veranstaltungen hingehen kann, z.B. zu einem Kaffeenachmittag, gibt es nicht. Meine Vorschläge dazu wurden abgelehnt. Im altersgerechten Wohnhaus sind „Fremde“ nicht erwünscht. Und der Jugendklub ist eine – so von mir bezeichnet – Hundehütte. (Außerdem – wörtlich – sollen die Alten dahin gehen, wo sie hingehören, nämlich in die Volkssolidarität/Klubraum – ständig überfüllt)

Aber ich will nun aufhören, im Moment kann ich sowieso nichts ändern. Ich bin noch am Überlegen, ob ich auf einige Artikel in der Zeitung eingehe. Nur wollte ich nicht, daß mein Name wieder in der Öffentlichkeit genannt wird.

Dein Pellkartoffel-Set ist heute bereits in Betrieb genommen worden. Es geht wunderbar!
Am 1. Feiertag war ich zum Essen bei K.s eingeladen. Wenn ich auch, gemessen am Vermögen, nur ein armes Luder bin, so hat es mir doch ganz gut gefallen. Sie haben inzwischen gemerkt, daß ich auf bestimmte Dinge nicht in ihrem Sinne reagiere bzw. überhaupt nicht. Frau S. ist inzwischen wieder zu Hause (sie war doch operiert worden), hat zur Pflege eine Dortmunder Bürgerin gehabt !!! und des weiteren eine Kur im Blindenheim Georgenthal absolviert. Seit dem 22.12.1989 ist sie wieder zu Hause, ich habe sie aber noch nicht wieder gesehen. Bei ihr ist es genauso wie bei K.s – ich habe ja kein Westgeld und kann nicht mithalten in bestimmten Dingen. Aber das tut mir alles nicht weh. Es gibt ganz anderes im Leben!

Am 28.12. war ich bei der in meiner Nachbarschaft wohnenden blinden Familie. Es ist ein Ehepaar in den vierziger Jahren; er ist durch einen Unfall fast blind und die Frau ist durch ihre Verdauungsorgane von Geburt an blind, ebenso wie ihr Vater es gewesen ist und auch ihre Schwester mit ihren beiden Kindern, die ebenfalls im Hause nebenan wohnen. Die ganze Familie darf nichts mit Milch essen oder trinken, es muß alles extra gekocht werden.
Es sind nette und auch intelligente Leute. Trotz der außerordentlichen Sehschwäche ist L e s e n die Hauptbeschäftigung. Natürlich geht alles nicht so schnell. Gibt es bei Euch Literatur über Hufeland? Ich habe es schon überall versucht, auch in Berlin, habe aber nichts gefunden. Dafür interessieren sich die Eheleute (o.Kd.).
Ich hoffe, daß Du nichts dagegen einzuwenden hast, daß ich einen Teil der Garderobe diesen Leuten geschenkt habe. Ein Kleid, eine Bluse und den Morgenmantel habe ich behalten, das paßt. Die andern Kleider usw. passen wie angegossen der jungen Frau. Sie haben sich sehr gefreut.

Übrigens gärt es auch in Georgenthal. Dort soll der Keramik-Betrieb geschlossen werden. Ich bin zwar überzeugt, daß die 48 Beschäftigten in den umliegenden Betrieben wieder Arbeit bekommen, aber die Produktion Zierkeramik ist bei uns ein gefragter Artikel. Außerdem hat der Betrieb einen ansehnlichen Gewinn gemacht und an den Staatshaushalt abgeführt. Das wäre etwas für die Privatinitiative, nur müßte eben einiges in Ordnung gebracht werden. (Bausubstanz soll hinüber sein!)

In bezug auf das „Unausgesprochene“ hoffe ich, daß ich das wieder in Ordnung bringen kann; wir sind ja nicht etwa uneinig auseinander gegangen. Ich hätte nur gern noch etwas über Günter erfahren und er hat auch mit jemanden gesprochen, aber es wurde nur angedeutet. Inzwischen habe ich mit dem Kaderleiter der Eisenbahner-Schule gesprochen und es war schon etwas, was mich interessierte.

Im übrigen: es sind zwei Kleider, die ich behalten habe – das blauweiße und das mit Plissee.

Das Taschenbuch habe ich auf meinem Nachtschränkchen liegen und lese abends darin. Ich mußte mich erst mit dem Stil abfinden bzw. mußte mich daran gewöhnen.

Deine Reisen in die DDR sind ja jetzt problemlos geworden. Die Öffnung des Brandenburger Tores war ja mehr als ein Staatsakt. Trotzdem daß nun die vielfältigen Möglichkeiten bestehen, haben noch nicht alle Bürger der DDR sich das „Geld“ geholt. Dazu gehören auch die Blinden in meiner Nachbarschaft. Das sind alleine fünf Personen, also vier Erwachsene und ein Junge. Auch mein Bewohner, der mal der VP angehörte, ist noch nicht drüben gewesen. Dagegen sind es Leute, die sich sehr negativ geäußert haben, als andere drüben waren in den vergangenen Jahren und einige „Unterstellungen“ zum besten gegeben haben, wie z.B. daß die Rentner die DDR „drüben schlecht“ machen usw., waren trotz schwerer Herzkrankheit des Mannes, mit die ersten. Man könnte noch mehr Storys zum Besten geben, aber was soll’s. Ich gönne es jedem. Vor allem deshalb, weil einiges, was ich gesagt habe wegen der Obst- und Gemüseversorgung, auch von oberster Stelle gesagt wo rden ist, was z.B. unser Ziel sein soll in bezug auf die Wirtschaftspolitik und die Versorgungsfragen.

Nun wird es schon wieder dunkel. Ich hoffe, daß ich auch noch den letzten Tag des Jahres 1989 und den ersten des neuen Jahres 1990 überstehe. Meine Balkonnachbarin ist zu Hause, so daß wir uns mal gegenseitig gratulieren können. Sie war gestern nachmittag zu einer Tasse Kaffe bei mir. Es ist eine einfache Arbeiterfrau und ist auch jetzt von einem ihrer Kinder enttäuscht.

Nun habe ich mich mal regelrecht ausgequatscht. Die Fehler bzw. Tippfehler bitte ich zu entschuldigen.
Ich wünsche Dir für das neue Jahr alles, alles Gute! Bleibe vor allem gesund! Wann gehst Du nun in Rente?

Es grüßt Dich herzlich
Friedel

 

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