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Brief (Transkript)

Friedel H. aus Gotha an Charlotte M. nach Göttingen am 26.11.1989

 

Gotha, am 26.11.1989

Liebe Charlotte!

Nun sind vier Wochen vergangen, ehe ich Deine am 02.11.1989 erhaltene Post beantworte. Wochen, die es im wahrsten Sinne des Wortes in sich hatten. Wenn mir in den vergangenen Jahren andeutungsweise Dinge erzählt wurden, die sich heute als Tatsachen herausstellen, habe ich es nicht geglaubt. Wir „kleinen“ Genossen sind darüber sehr erschüttert. Wir hoffen aber, daß es auch zu etwas g u t war und nicht nur die Reisefreiheit betrifft. Es liegt ja so vieles im argen. Warten wir es ab. Ich habe keine Privilegien gehabt – im Gegenteil.
Die Wartezeiten an der Grenze werden ja nun auch der Vergangenheit angehören. Wie ich so aus den Diskussionen der Bevölkerung und den Medien entnehme, klappt doch einiges heute viel besser als in der Vergangenheit. Auch die Gemeinde I f t a ist frei. Meine Bekannten sind am letzten Wochenende über Ifta nach Sondra. Man kann es manchmal gar nicht glauben, daß es noch so etwas gibt. Aber so ist es doch wohl auch richtig.

Deine Post habe ich erhalten und bedanke mich recht herzlich dafür. Mit meinen Handarbeiten möchte ich mich auf Stickarbeiten konzentrieren. Leider habe ich noch keinen Handwerker gefunden, der mir die Ausschnitte auf den mir übersandten Karten herausstanzt. Mal sehen, welche Schlussfolgerungen es in dieser Beziehung gibt, also auch einmal so etwas herstellen, was die Menschen zur Verschönerung ihrer Umwelt möchten.

Ich betrachte es immer als ein Wunder, daß ich mich gesundheitlich relativ gut fühle. Die letzten vier Monate und besonders die letzten zweieinhalb Jahre waren für mich in mehrfacher Hinsicht nicht mehr zu verstehen. Heute sind es genau 51 Jahre, daß ich den Namen H. trage. Es ist das, was ich als einziges in meinem Leben zu bereuen habe. Für mich sind viele Dinge unfaßbar. Wofür lebe ich noch? Vier Kinder habe ich geboren und was habe ich heute? Wenn ich auch bisher alleine war - e i n s a m war ich nicht. Auch meine Arbeit in der Volkssolidarität, die Betreuung, besonders in kultureller Hinsicht, kann nicht über die innere Einsamkeit hinwegtäuschen. So im Innern trage ich mich ernstlich mit dem Gedanken, für einige Stunden am Tage oder in der Woche zu arbeiten. Es geht mir nicht um das Geld, sondern einzig und allein darum, aus der Enge meiner Wohnung herauszukommen. Aber ich überlege es mir noch reiflich.

Kurz vor der großen Reisewelle war ich ein paar Tage in Berlin – gerade noch rechtzeitig am 15.11. habe ich die Kurve gekratzt. Es hätte nicht viel gefehlt und ich hätte nicht einmal meinen Platzkartenplatz bekommen. Aber meine Bärbel hat auch ihre Probleme. Ich kann sie ihr aber nicht abnehmen. Ich hätte auch nie geglaubt, daß sich Menschen so ändern können. Aber man muß eben damit fertig werden.

Wenn ich alles richtig mitbekommen habe, hat es dem Michael hier bei mir gefallen. Es waren schöne, ruhige und ausgeglichene Tage. Der Besuch von Dieter und Hanna war etwas unruhiger, nicht allein wegen dem Unfall. Es ist aber alles noch gut abgegangen. Wir hatten einen guten Stern. Auch eine Hörselbergwanderung war im Programm, wenn auch nicht so lang, wie vor einigen Jahren. Das hätte ich wahrscheinlich nicht mehr geschafft, bis zum „Kleinen Hörselberg“, also bis nach Wutha. Ich habe immer den Eindruck, daß zuviel Unausgesprochenes zwischen uns ist. Aber vielleicht ist es auch gut so. Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß, so hieß es doch immer bei unserer Mutter.

Nun ist es nicht mehr zu verheimlichen, der Winter ist im Anmarsch. Damit werden Deine Reisemöglichkeiten auch eingeschränkt. Wenn Du mal wieder nach hier kommen solltest, so hätte ich eine kleine Bitte. Ich hätte sehr gerne so Gefrierbeutel für das Kältefach im Kühlschrank. Gibt es bei Euch so Dreizackgabeln zum Schälen von Pellkartoffeln? Vielleicht ist es unverschämt, aber sicher ist es nicht gar zu teuer.

Kann ich Dir eine kleine Freude zu Weihnachten machen?

Für heute will ich Schluß machen.
Ich grüße Dich ganz herzlich!
Friedel

 

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