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Brief (Transkript)

Erika D. aus Moosburg an Annegret S. nach Ost-Berlin am 14.11.1984

 

Moosburg, 14.11.84

Meine liebe Anne!

Ich scheine es Dir nach zutun, seit 8 Tagen liege ich hier im Krankenhaus und versuche mich um eine Operation zu drücken. Darmverschluß letzten Dienstag versetzte mich wieder in Angst und Schrecken! Das Messer drohte, scheint aber mit der schnellen Hilfe und abwartenden Behandlung zunächst abgewendet und die Hoffnung, Ende der Woche daheim zu sein, habe ich auch. Es lief alles so gut, patsch, bekommt man wieder mal einen Dämpfer. Aber so habe ich wieder mal himmlisch viel Zeit zu lesen, lesen, lesen. Und Dein schönes Modersohnbuch zählte gleich zu den ersten Werken, die ich einpackte! Das war ein ganz, ganz tolles Geschenk, ich lese ganz begeistert, immer wieder noch einmal einen Brief, schaue die Bilder an – Anne sei ganz, ganz lieb bedankt dafür. Das Briefpapier liegt ebenso auf dem Nachttisch, ich schreibe auf selbiges an Dich! Das Chr. Wolf buch wollte ich für eine Tanzfreundin, sie kauft es für West ab und dann hast Du ein kleines Guthaben hier, falls Du nochmal was ergatterst, schicke es her bitte. Deine kleinen Anhänger + Broschen sind ja süß, lila paßt zu einem dunkellila Cordkleid sehr gut und blau zu meinem Winterdirndl, das ich nun endlich, trotz Ulis Protesten, ich sähe zu fett darin aus, habe. Also auch dafür ganz vielen Dank! Meine Schneiderin hat das Dirndl auf „Figur“ genäht, dunkelblau mit hellblauen Streublümchen, hellblaue Schürze mit weißen Streublümchen, ich fühle mich sehr gut darin und man ist in „Tracht“ zu jederzeit richtig angezogen. So nach + nach werde ich mich auf „Tracht“ verlegen, für Fest + Feiertage sowie für Alltage, es paßt in die Landschaft und mir auch! Du schreibst von den Wollvorräten, an denen Du noch immer Freude hast – das müssen ja 1000de von Metern sein, die auf den Spulen sind, wenn es immer noch nicht alle ist. Ich hatte jetzt auch angefangen, von der melierten Wolle 4fach für den kleinen Uli einen Pulli zu stricken, Schachbrettmuster 8 re 8 li und 10 Reihen hoch, es machte Spaß, ¾ Vorderteil ist fertig, nun liege ich hier, kann wegen Venenentzündung von der Injektionsnadel (Tropf 4 Tage) in beiden Armen nicht gut hantieren. Ich will den Pulli aus geraden Teilen stricken, mal sehen, wie das dann am Ende aussieht, das Muster kommt gut raus, Ulrich und auch Thomi haben schon gleich nachbestellt – bis Weihnachten 85 werde ich es wohl schaffen!!! Fein, daß Du auch aus den Stoffresten was gebastelt hast, da suche ich gerne wieder was zusammen, vor allem, bevor Ulis Büro umzieht und sie ev. was in den Müll werfen. – Bei Uli im Büro ist die Lage nicht rosig, der Chef macht das Arbeitsklima durch unqualifiziertes Benehmen, Geschimpfe und Gebrüll unerträglich, kein Lob, nur Tadel und das auf sehr ausfallende Weise, Ulrich ist mächtig down, will aber eine Aussprache herbei führen, weil er sonst kaputt geht. Vor seinem Geburtstag war es so schlimm, das ich fürchtete, wir könnten garnicht feiern, so schlecht beisammen war er, hat tüchtig abgenommen, schläft schlecht und macht sich Sorgen. Das heißt es immer gut zureden, Problem analysieren, Ruhe behalten, obwohl’s einem auch schon an die Nieren geht. Mein sonniges Gemüt und vielleicht auch Optimismus und gute Nerven helfen da viel und bis jetzt haben wir ja alles ganz gut zusammen geschafft und ich denke es wird auch wieder schön werden. Da paßte meine Krankheit gerade richtig, aber es geht mir ja wieder besser und bald bin ich wieder zu Hause. Für Frühjahr plane ich schon mal eine Tour Richtung Berlin, Weimar, Dresden, ob etwas daraus wird? Ich habe jedenfalls Sehnsucht nach der alten Heimat, Anne, mal wieder richtig quatschen! Ich denke so gerne an die schönen Tage mit Dir, Horst und Mutti in Leipzig. Es wäre „zu und zu schön“, wenn es wiedermal so klappte. Zu Hause liegen die Bildchen von unserem Meißenbesuch, die will ich mal endlich raussuchen und mitschicken, oder habe ich schon? Die Filme sind so lang und da bleiben sie so lange im Apparat, am Ende weiß man garnicht mehr, wann es war. Der Karpfen von Meißen schmeckt mir noch heute gut in der Erinnerung. Apropos Meißen, als unsere Schiederauer Freunde zu Ulis Geburtstag da waren, Samstag, Sonntag, Montag hatten sie sich Zeit genommen, mußten sie auch etwas „in Bildung“ machen und wir schleiften sie rum. Unter anderem in die wunderschöne Sammlung Meißener Barockporzellane im Oberschleißheimer Schloß – da ich dieselbe ja schon mal gesehen hatte, konzentrierte sich meine Sicht auf den Vergleich zu Meißen original – hier konntest Du wirklich das sehen, was Meißen ausmacht, dort, was man daraus macht!!! Unsere Freunde, die erst etwas skeptisch waren, kamen hellauf begeistert heraus, was einen „fast Sachsen/Thüringer natürlich sehr freute. Ja der Geburtstag war sehr schön, Trautel, Ulis Schwester mit Mann waren gekommen, alte Weimarer aus der Tanzstundenzeit, die Schiederauer Clique, es war so harmonisch und lieb, gelungen alles. Höhepunkt ein Bänkellied mit 25 Versen auf Uli, wo manches Lachstürme hervorrief – Sünden aus der Jugendzeit! In unserem engen Häuschen wars trotz Fülle gemütlich, in der Küche wurde gegessen, 13 Personen, alle verfügbaren Stühle rangeholt, im Flur und in der Küche (Tisch an die Wand!) getanzt, im Wohnzimmer rumgesessen und rumgetrunken, garnicht soviel, die Stimmung war auch ohne „Stoff“ da. Ich habe mich für Uli so gefreut, es tat ihm sehr gut. Nun haben wir am 20. noch eine Nachfeier mit unseren Tanzsportfreunden, der „harte Kern“ ist eingeladen, ich koche korsisch, auch wieder 13 Personen. Die Leute sind auch so nett, das macht dann richtig Spaß. Mit unserer Tanzerei ging’s jetzt so gut, nun ist wieder Ebbe und 14 Tage kein Training wirft einen wieder zurück, ich bin da so eifrig, Ulrich muß erst mal einen Tritt bekommen, bis er auch eifrig ist, er will die Sache nicht so ernst auffassen, freut sich aber, wenn die Trainerin sagt, wir müßten bald so gut sein, daß wir „raus, zum Turnier“ sollen, ich möchte gern, Uli nicht, es kostet Zeit, Geld + viel Einsatz, Nerven auch, da habe ich plötzlich welche und zittere an Händen + Füßen – wie beim letzten Mannschaftsturnier, obwohl es um nichts geht, als bloß in der Mannschaft (4 Paare) gut zu tanzen. Naja, ein Nervenkitzel muß eben auch sein. Hoffentlich langweile ich Dich nicht so, es jetzt alles so unorthodox durcheinander, aber ich schreibe so, als ob ich mit Dir am Telefon rede, wie’s mir in den Sinn kommt. Übrigens habe ich 2 gute Bücher aus Weimar bekommen, Vorstadtkindheit, spielt in Leipzig, sehr vertraut, 2. Band Großstadtmittag spielt in Leipzig und Westberlin. Beide lesenswert; wie das Leben so spielt! Kennst Du etwas von H. Loest, früher Leipzig, in den 60 er gesessen, seit 80 in Osnabrück, ich habe gerade seine Autobiographie verschlungen. Durch die Erde ein Riß – aufschlußreich, da erstand meine ganze Pennezeit und die Zeit danach wieder auf, Junge Gemeinde, Stalins Tod, leider nur hier verlegt, weil zu brisant. Mühen der Ebene, Jungen die übrig blieben sind 2 Titel, die in der DDR verlegt wurden, wahrscheinlich aber exiliert sind aus den Beständen, schade! Wenn ich hier in die Bücherei gehe, muß ich vorher schon den Titel wissen, sonst nehme ich zuviel mit, was hier für Bücher neu erscheinen, det jet et ga nit“. Besonders Frauenliteratur noch und nöcher, ich habe mich mal umgesehen und vieles für sehr gut gefunden, da wird doch manchen geholfen und Probleme abgebaut und Trägheiten mobilisiert. Gestern habe ich ein Büchlein durchgeschwartet, das haargenau das Leben und die Ehe meiner Schwester Ute schildert und die Befreiung daraus, sicher für manchen Mann ein Denkanstoß, wenn er es annimmt und für Frauen eine Hilfe. Was bin ich froh, in Ulrich einen Partner zu haben und nicht einen Mann, der mich als Eigentümer besitzt. Wenn ich so was lese, denke ich, daß ich schon lange emanzipiert bin und daß wir in einer Gemeinschaft leben, wo einer wirklich für den anderen da ist.
So, nun höre ich aber auf, besser wäre es, ein bisschen zu quatschen, das geht schneller, mein Arm piekt auch schon und ich will mal ein bisschen pennen.
Sei lieb gegrüßt, erhole Dich weiter gut, aber bitte, bitte, nicht zu früh wieder in’s Geschirr, jetzt fängt die miese Fahrzeit an, da mußt Du doppelt fit sein.

Liebe Grüße an Bärbel und an Horst. Sei umarmt in alter Freundschaft! Deine Pimpinella

Wie gehts bei S.'? Hoffentlich gut, sie sind genug heimgesucht worden.

 

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