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Brief (Transkript)

Ute B. aus Ulm an Annegret S. nach Ost-Berlin am 19.06.1961

 

19.6.61

Meine liebe Anne!

Über Deinen lieben Brief habe ich mich riesig gefreut und Du solltest auch gleich trotz aller Arbeit eine Antwort bekommen.

26.6.61

Siehst Du, trotz der besten Vorsätze ist der Brief eine ganze Woche hier liegengeblieben. Aber nun will ich Dir mal von mir, d.h. von uns, erzählen. Da Du etwas über unsere Wohnungseinrichtung durch den Institutsbrief unterrichtet bist, kann ich Dich mit der Nachricht überraschen, daß ich schon wieder fast einen ganzen Monat arbeite. Ja, stell Dir vor, ich bin jetzt im Milchlabor einer staatlichen Anstalt für Lebensmitteluntersuchungen. Ich untersuche dort Milch, Butter, Käse, Eis, Schlagsahne (!), Büchsenmilch usw. auf Fett, Trockensubstanz, Dreck, Säuregehalt usw., jenachdem, was verlangt wird, ob es nur Stichproben oder Beanstandungen sind. Aber auch Gebrauchsgegenstände (Salatbestecke, Schneebesen) und Porzellan muß auf die Echtheit der Farben und den evt. Bleigehalt geprüft werden. Sogar Lippenstifte fallen in mein Untersuchungsgebiet! In diesem Amt werden sozusagen alle Lebensmittel geprüft: Weine, Bier, Wurst, Süßigkeiten, Brot … Es ist allgemein sehr interessant, nur muß ich noch höllisch aufpassen, weil es an allen Ecken und Enden nur Chemie gibt. Der Institutsbetrieb ist unserer alten Wirkungsstätte sehr, sehr ähnlich, und ich denke oft an frühere Zeiten. Es ist nur komisch, daß man praktisch keine Leute kennt und so ein richtiger Neuling ist.
Wir sind im Ganzen 14 Personen und der Chef. Meist sind es Chemotechnikerinnen und Lebensmittelchemiker, das Verhältnis zwischen allen ist recht nett. Einen Institutsausflug hat es inzwischen auch schon gegeben, zu dem ich allerdings nicht mit war, weil mich der Heuschnupfen in diesem Jahr unheimlich geplagt hat. Dazu hat der Staat sogar 7,50 DM gezahlt! Wenn ich Dir nun schon mal so ausführlich von meinem neuen Arbeitsleben berichtet habe, muß ich Dir auch noch einiges von unserem Chef erzählen, wenn ich den Brief vor einer Woche fertig geschrieben hätte, hätte ich den Chef wahrscheinlich mit OM verglichen. Er hatte so einige Gemeinsamkeiten obwohl er 15 Jahre älter war. So z.B. war er auch zu vorsichtig, um sich ein Auto anzuschaffen, er kümmerte sich auch um alles, war recht nett zu allen, wenn nichts schief ging, und ich glaube, er hatte diesselbe Fähigkeit, sich die zusammenpassenden Mitarbeiter auszusuchen, trotzdem konnte er auch trotz größter Findigkeit z.Zt. keine neue Sekretärin finden. Trotz seiner ihm eigenen Zurückhaltung wäre er zum Ausflug sehr aufgeschlossen und fröhlich gewesen. Und nun stell Dir vor, am Tage nach dem Ausflug, als wir 7.30 im „Amt“ ankommen, hat sich dieser Mann mit Cyankali vergiftet und sitzt tot in seinem Arbeitszimmer am Schreibtisch! Wir wissen keine Gründe, warum das geschehen mußte, auch nicht seine Frau und seine Kinder, aber man war vollkommen fassungslos und erschrocken! Deshalb – weil heute gerade das Begräbnis war – mußte ich Dir das so genau schreiben.
Aber nun genug davon!
In Ulm gefällt es mir nun seit 2 Monaten recht gut. Es ist wirklich eine nette Stadt und die Donau, die mitten durch fließt gibt ein ganz einzigartiges Gepräge. D.h. mittendurch fließt die Donau eigentlich gar nicht, denn an dem nördlichen Ufer liegt Ulm und auf der anderen Seite Neu-Ulm, letzteres gehört aber bereits zu Bayern, und wir in Ulm gehören zu Würtemberg. Ulm war im Krieg zu 78 % zerstört und ist fast vollkommen neu, teilweise auch im alten Stil aufgebaut! Man findet kaum noch eine Ruine oder einen freien Platz in der Stadt. Sehr viele Geschäfte und Kaufhäuser gibt es nun im Verhältnis zu Berlin oder München grad nicht, aber Anne, ich bin noch jedes Mal krank, wenn man sieht, was es alles zu kaufen gibt. Natürlich muß man auch eine ganze Menge Wünsche zurückstellen, denn das Leben läßt es sich schon was kosten, aber man kann ja warten, denn in 2 Monaten oder in einem halben Jahr gibt’s das alles noch, wenn’s nicht gerad stockunmodern ist!
Samstags wird natürlich nicht gearbeitet, allerdings sind die Arbeitstage recht lang: von 7.30 – 17.00. Dieses lange Wochenende nutzen Jork und ich meist für schöne, lange Ausflüge aus, denn die schwäb. Alb ist eine reizende Gegend. Uns kommen die freien Tage dann richtig wie Ferien vor. Jetzt ist ja auch endlich richtiges Sommerwetter geworden. Richtig schön wäre schon, wenn man Dich mal einladen könnte, aber der dumme Paß…, oder versuchst Du es mal? Mit München haben wir auch schon ein Wiedersehen gefeiert und stell Dir vor, als Jork vor 8 Tagen dienstlich nach Dortmund mußte, hat er mich mitgenommen und ich konnte in Düsseldorf Jochen besuchen. Es war zwar von Ulm aus eine recht lange Fahrt, aber der Besuch war riesig nett. Ja, und der Haushalt muß halt so nebenbei geschafft werden. In den ersten Monaten war es natürlich besser, ich konnte alles allein und recht ordentlich machen. Jetzt kann ich halt die Wäsche und die Oberhemden nicht mehr selber bewältigen. Aber wenn Du Jork zu manchen Zeiten sehen würdest, würdest Du ihn bestimmt Uli gleichordnen. Er ist nämlich ganz prächtig und hilft mir recht lieb. Gemeinsam geht doch auch alles schneller und man hat dann auch gemeinsam freie Zeit. Bei dem weniger schönen – vor allem weniger warmen Wetter – haben wir wiedermal Federball gespielt. Aber weißt Du, am schönsten ist es, daß mich Jork jeden Abend abholt, bzw. er kommt mir auf meinem Weg entgegen, weil ich den längeren Fußmarsch habe. Mein Weg ist aber recht schön, fast die Hälfte geht am Donaustrand entlang.
So, nun habe ich aber genug von mir erzählt. Ich hoffe, Du schreibst mir auch bald mal wieder, mich interessiert nämlich alles. Das Treffen mit Christine war ja sicher nett.
Was macht der Kreis zu Hause und Deine Mutti und wie geht’s in Dewitz? Grüß nur alle recht herzlich von mir. Hast Du von Erna mal wieder was gehört? Aus der Fichtestr. haben sie mir mal einen großen Gemeinschaftsbrief geschrieben und Frau B. und Frau B. schreiben auch so unentwegt!
Recht, recht viele Grüße an Dich, liebe Anne, von Deiner Ute u. Jork

 

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