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Brief (Transkript)

Frau W. aus Ost-Berlin an Christine M. nach Elmshorn am 08.01.1991

 

Berlin, den 8.1.91

Liebes Frl. M.!

Nun wird es endlich Zeit, daß ich mich für das Weihnachtspaket bedanke. Ganz besonders für die schönen Bücher. Ich habe mich sehr darüber gefreut. Wir sind froh daß Weihnachten, Silvester u. Neujahr vorbei sind. Bescheiden u. traurig war diese Zeit. Zuviel brach und bricht über uns herein. Immer mehr müssen wir erkennen daß die Schonzeit für uns vorbei ist. Seit dem 2.12. regieren die Fakten. Die Preise steigen im Neuteil des Landes stärker noch als im alten Teil. Massenentlassungen tag Täglich. Das unterschiedliche Lohnniveau in Ost u. West hat schon die nächste Wanderungswelle ausgelöst. Dabei ist es Wurst ob junge Familien mit Sack und Pack nach Westen abtriften oder ob West-Arbeitgeber die Ware Arbeitskraft montags per Omnibus in den Westen holen u. Freitags abends zum Schlafen wieder in den Osten abschieben. Halten wir also fest, der Ostteil des 30 Mill. Staates blutet weiter nach Westen aus. Das alles ist systemimmanent und darf von denen nicht beklagt werden, die sich per Akklamation u. Stimmzettel nicht fürs einig Volk, sondern auch für die Marktwirtschaft entschieden haben. Nur seit Erhards Zeiten heißt das Ding „soziale“ Marktwirtschaft und ich kann beim besten Willen nicht erkennen, wo die soziale Komponente der Wiedervereinigung steckt, sie muß im Galopp des letzten Jahres verloren gegangen sein. Und wenn wir die nicht wieder finden, dann Bundesrepublik ade. Wenn die Deutschen ihre Einstaatlichkeit nur sentimental ausleben wollen, ohne solidarisch zu sein mit- und füreinander ohne zu teilen, dann wird das Land binnen kurzem in eine krasse Zweiklassengesellschaft zerfallen. Die reichen Vettern West die ihr erspartes verteidigen und die armen Vettern Ost, die sich mit dem dürftigen Trost bescheiden müssen, sie hätten halt zweimal für den verlorenen Krieg bezahlen müssen – Schicksal. Dann freilich auch hat es ein Ende mit der Alt-Bundesrepublik als Paradies der Seligen. Dann kommt es zum Crash, der sich nicht mehr nur als Börsen-Crash entpuppt. Wie haben wir uns nach Deutschland gesehnt. Endlich eine eigene Identität zu haben. Im Moment aber fühlen wir uns als Heimatlose auf demselben Boden der angeblich Deutschland heißt, und dies umreißt schon die Tragik einer ganzen Nation. Ich sehe als Kehrseite der soz. Marktwirtschaft nicht nur die Arbeitslosigkeit und resultierende fam. Probleme. Ich bemerke zunehmend Kälte, Rücksichtslosigkeit u. ängstliche Zurückhaltung in den zwischenmenschlichen Beziehungen. Es interessiert sich niemand mehr für irgendein menschliches Problem. Basisdemokratie ist den Regierenden schon lästig geworden. Entscheidungen werden gewaltsam durchgedrückt. Diese neue Gesellschaft ist eigens für Leute mit Geld gemacht denn die Leute die es besitzen, sind ständig seinen Zwängen unterworfen. Was mich dabei am meisten beunruhigt, sind Fragen, deren Dringlichkeit sich unter der Herrschaft des Kapitals in diesem Jahrhundert weiter zuspitzen. Probleme über Probleme sie lassen uns nicht mehr zur Ruhe kommen. Sie lassen keine Freude mehr zu.

Mit herzlichen Grüßen
und Dank für alles
Fam. W.

 

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