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Brief (Transkript)

Frau W. aus Ost-Berlin an Christine M. nach Elmshorn am 14.11.1990

 

Berlin, 14.11.90

Liebes Frl. M.!

Dank für Ihren Brief vom 24.10. Wie immer ist es für uns eine große Freude, etwas aus einer anderen Welt zu erfahren. Bei uns herrscht zZ. Chaos. Wie Sie sicher aus Funk u. Fernsehen wissen. Unser Stadtbezirk hat zZ. viele Probleme. Hier haben sich massenhaft Chaoten, Hausbesetzer, Autonome usw. in leerstehende Häuser eingenistet die von überall hier herkamen. Aus dieser Szene wurde der Stadtbezirk drangsaliert. Es wurde eingebrochen, gestohlen, Feuer gelegt, Menschen provoziert wo immer es ging. Sie haben Angst und Schrecken verbreitet. Dieses Chaos gibt es nicht erst seit 2 Tagen, nein das geht zurück bis in die alte SED Zeit. Sie haben ganze Viertel geräumt und die Häuser verkommen lassen und ein Jahr Rechtlosigkeit einer Polizei des alten Regimes die nicht anerkannt wurde einem Senat (Rot, Grün) und einem Magistrat der nur bemüht war seine Schäfchen ins trockene zu bringen sind unfähig dieses Chaos zu beseitigen. Wir sind froh daß heute endlich massiv eingegriffen wurde. Es muß endlich Ruhe und Ordnung einkehren. Heute gleicht der Stadtbezirk einem Bürgerkriegs ähnlichem Gebiet überall steht Polizei und Absperrungen. Die Frankfurter-Allee gleicht einem Heerlager. Die Jungen Polizisten aus Berlin und Niedersachsen tun mit sehr leid sie müssen ihr Leben für solches Gesindel einsetzen. Es ist schlimm, sehr schlimm. In meinem ganzen Leben habe ich noch nie soviel verkommende, verwahrloste, liederliche, schmutzige und schon sehr alt aussehende Jugendliche gesehen wie hier anwesend sind. Gott sei Dank wurde das Fußballspiel in Leipzig abgesagt, denn viele haben sich aus dieser Szene schon darauf gefreut wieder so wie sie sagten Bambule zu machen und die Bullen aufzureißen. Es ist schrecklich. In dem ganzen Chaos gibt es aber auch andere, die zwar auch Häuser besetzt haben, die Verträge gemacht haben um die Häuser zu retten. Sie geraten jetzt durch die total ausgeflippten mit in diesen Strudel und haben es sehr schwer aus dem Chaos herausgehalten zu werden. Ja Frl. M. Ihre Zeilen sind immer sehr optimistisch leider kann ich nicht mit Optimismus dienen. Leider übermittelt Ihnen der Brief keine Töne, sonst würden Sie hören wie draußen auf der Straße die Luft erfüllt ist von den Tönen der Polizeisirenen, der Feuerwehr und Krankenwagen und in der Luft über den Häusern würden Sie die Hubschrauber kreisen sehen. Das alles stimmt nicht optimistisch im Gegenteil. Wir hoffen sehr daß es sich bald ändert. Polizisten aus Niedersachsen mit denen wir gute Gespräche führten haben uns getröstet und auch Sie sind sehr optimistisch. Genug von dem Elend. Ansonsten bin ich immer noch sehr mit meinem Enkel beschäftigt. Welch ein Glück denn er lenkt ab von den alltäglichen Sorgen. Er sieht die Welt himmelblau und ist zufrieden wenn immer einer da ist mit dem er schnattern und spielen kann. Für mich ist das manchmal ganz schön anstrengend aber es geht gerade noch. Mein Mann hat noch bis zum 31.12. Arbeit, was dann wird steht in den Sternen. Wir müssen abwarten. Seit dem Beitritt sind ja erst 6 Wochen vorbei und vieles muß geordnet werden das kann nur Schritt für Schritt gehen. Hoffentlich gibt es am 2.12. ein anständiges Wahlergebnis für Berlin damit diese Stadt wieder aufleben kann sie hat es verdient nach all den Jahren der Unterdrückung. Drücken wir die Daumen.
Ihnen aber vielen Dank für alles.
Bleiben Sie gesund.

Herzlichst
Fam. W.

 

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