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Brief (Transkript)

Frau W. aus Ost-Berlin an Christine M. nach Elmshorn am 30.09.1990

 

Berlin, den 30.9.90

Liebes Frl. M.

Schön wieder von Ihnen Post zu erhalten. Nun ist es bald so weit. Ich meine der 3. Oktober ist ein Tag der Freude. Es ist der schönste Tag nach Beendigung des Krieges. Es ist der Tag, den wir unseren Kindern oder wenigstens unseren Enkeln gewünscht haben, da es unrealistisch schien, ihn selbst noch erleben zu wollen. Es ist der Tag, da wir wieder ein Volk werden, im Einverständnis mit der Welt und im Frieden mit ihr. Es ist das Ende der Nachkriegszeit, er ist greifbares Zeichen des Zusammenwachsens von scheinbar unversöhnlichem Getrennten, ein Zeichen der Hoffnung gegen alle Resignationen bei uns oder anderswo, wo etwas unabänderlich scheint.
Wir wissen, daß Fragen und Probleme mit ihm verbunden sind, wir stecken mittendrin. In der Fülle der neuen Möglichkeiten sind wir noch Objekte. Aber die Türen sind geöffnet zu zahllosen Wegen, zur eigenen Entfaltung und Lebensgestaltung. Aus Bittstellern, die auf Gunst durch Anpassungsverhalten setzten, werden mündige Staatsbürger, die sich auf Rechte berufen. Ja die Mauer ist gefallen, uns aber wird diese Zeit unvergeßlich bleiben steckt doch da unser 40jähriges Leben drin. Ich habe hier nie Heimat gefunden. Als Ostzigeuner wurden wir damals nach unserer Vertreibung aus Schlesien hier betitelt waren ständig bespitzelt unterdrückt und gegängelt, hatten nie die Möglichkeit sich frei zu entfalten mußten uns stets den Anordnungen beugen um einigermaßen zu überleben. Nichts erfreuliches ist in den 40 Jahren DDR passiert im Gegenteil die vielen Schikanen die unsere Familie überstehen mußte werden uns stets in Erinnerung bleiben. Auch die kommende neue Zeit wird an Menschen wie uns sehr schmerzhaft auf uns einwirken. Wir haben kaum Reserven ein 40 jähriges Arbeitsleben daß schlecht bezahlt war hat nicht viel Ersparnisse gebracht und die wurden uns nur zur Hälfte getauscht. Die Rente ist klein aber die Preise steigen auf Westniveau daß so sagen wir kann auf keinen Fall gut gehen. Wir werden, wir waren, und bleiben die ewigen Verlierer des letzten Krieges. Gute Aussichten für ein besseres Leben werden wahrscheinlich nur unsere Enkel haben. Alle anderen haben harte Zeiten vor sich, sie alle haben schlechte Voraussetzungen. Nur die Großen die schon immer wie die Made im Speck gelebt haben, sie haben es verstanden sich gut bezahlte Posten zu sichern (siehe unsere Regierung) alles andere war ihnen egal. Der 3.Oktober kommt aber einen Grund zum feiern haben wir nicht.
Heute am 30.9. findet der große Marathonlauf statt er führt an unserem Wohnhaus vorbei. Von unserem Balkon aus konnten wir alles genau sehen. Für uns war dies ein Ereignis.
Christians Einschulung war schön. Ohne sozialistischen Zauber ging alles über die Bühne. Er geht gern in die Schule. Ich bringe in morgens hin und hole in Mittags wieder ab. Er könnte dies allein, aber da auch bei uns die Kriminalität, die Überfälle und sexuelles Vergehen an Kindern zugenommen hat besonders auch in Berlin-Lichtenberg wo er zuhause ist habe ich diese Aufgabe übernommen. Ich mache ihm Mittagessen mache Schulaufgaben mit ihm gehe spazieren oder auf den Spielplatz und das bis 16.00. So hat Petra Ruhe für ihre Arbeit weiß sie doch daß Christian versorgt und behütet ist. Bis jetzt läuft alles gut mit Christian und der Schule. Die Klassenlehrerin ist 35 Jahre sehr nett und gehört nicht der alten Gilde an. Aber sie haben es sehr schwer mit den Kindern der heutigen Zeit sie sind zu bewundern. An die Fam. H. die herzlichsten Grüße. Ich habe die schöne Autotour durch die Marsch nicht vergessen. Es war schön bei Ihnen. Es ist eine schöne Erinnerung und die kann mir keiner nehmen. Nun Frl. M. das wars für heute. Bleiben sie gesund. Feiern Sie den 3. Oktober. Wir werden in stiller Freude bei Ihnen sein
Herzlichst
Fam. W.

Und tausend Dank für Ihre Verbundenheit in all den Jahren die Sie uns und unser Leben verschönert haben

 

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