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Brief (Transkript)

Volkmar S. aus Eisenach an Klaus nach Gauting am 17.10.1989

 

Eisenach, 17.Okt.1989

Ihr Lieben!

Statt zum Kugelschreiber zu greifen, setze ich mich wieder an die Maschine, um beiden Familien gleichzeitig einen kleinen Bericht über die letzten Wochen zu geben.
Wir haben ja bekanntlich wegen unserer Modernisierungsarbeiten im Haus den Jahresurlaub sehr weit hinausgeschoben, so daß wir diesmal erst am 26. September in den Urlaub gestartet sind, nachdem Anke wohlbehalten von ihrem Urlaub in Budapest zurückgekommen war, ihre neue Arbeitsstelle angetreten hatte und das Haus bewahren konnte.
Wie Ihr aus unseren Kartengrüßen entnommen habt, waren wir diesmal „nur“ in Tabarz, wo wir in einem schönen Zimmer mit Sanitärzelle sehr gut untergebracht waren. Es hat uns gut gefallen, wie Ihr aus dem beiliegenden Urlaubsbericht erkennen könnt. Wichtig war, daß Waltraud diesmal absolut die „Füße unter den Tisch“ stecken konnte, was ja sonst nie der Fall war. Allein das war Erholung.

Beeinträchtigung erfuhren die zwei schönen Wochen nur durch die uns alle bewegenden Vorkommnisse mit den ausreisewilligen überwiegend jungen DDR – Bürgern, die hier zum größten Teil einen gesichterte-n Arbeitsplatz, Neubauwohnungen, Verwandte und Freunde und großenteils auch Autos (wenn auch nur Trabant oder Wartburg) aufgeben. Offenbar waren unsere Regierenden derart von der eingetretenen Situation überrascht, daß in den ersten Tagen eine absolute Sprachlosigkeit herrschte und den Westmedien über weite Strecken das Feld überlassen wurde. Ich sehe zwei Gründe für die Sprachlosigkeit: einmal die Unwissenheit in der obersten Führung über die wahre Stimmung in der jugendlichen Bevölkerung durch schöngefärbte Berichte und zum anderen die Rücksicht auf den festlich vorgesehenen Verlauf des 40. Jahrestages der DDR.
Heute, nach dreizehn Tagen, steht nun in der Zeitung „Junge Welt“, was sich am 4. Oktober auf dem Hauptbahnhof in Dresden abgespielt hat, als sich dort mehrere tausend Menschen versammelt hatten. Der eingetretene Schaden durch Randalierer, die sich bei solchen Anlässen ja überall finden, wird mit 175 000,- M angegeben. Bolko hat den zerstörten Bahnhof gesehen, aber auch, daß am nächsten Tag die zerschlagenen Scheiben an den Fahrkartenschaltern alle wieder repariert waren. (Er brauchte eine Fahrkarte, weil seine Seminargruppe am 6. Oktober in die Lausitz gefahren ist, um dort ihr „Bergfest“ zu feiern. Vom Hochwald aus hat er über die Grenze in den Stammort unserer Heinrich-Vorfahren hineingesehen.)
Ärgerlich und höchst betrüblich ist nun für uns alle, daß vorerst kein visafreier Reiseverkehr in die CSSR mehr möglich ist. Hart betrifft das vor allem die Sachsen, die ja schnell mal „auf ein Bier“ in den vergangenen Jahren über die Grenze gehuscht sind. Das ist nun ein weiterer Grund für die dort erfolgenden Demonstrationen. Dafür geht hier niemand, wie überhaupt, auf die Straße.
Natürlich fragen auch wir uns, wie das alles weitergehen soll. Meine Meinung ist, daß 98% der Ausreißer nur aus materiellen Gründen das Land verlassen. Viele werden sich bei Euch einordnen, aber viele, vor allem die jungen Frauen, werden sich über kurz oder lang hierher zurücksehnen.

19. Oktober

Wir leben wieder einmal in einer bewegten Zeit. Gestern überraschte uns der Rücktritt Erich Honeckers und nun haben wir einen neuen obersten Chef. Was werden uns die nächsten Wochen und Monate an neuem bringen?

Für den langen Brief von Klaus mit der Schilderung der Urlaubsfahrt nach Dänemark und für Ullis Anruf danken wir herzlich. Wir freuen uns besonders darüber, daß Euere Mutter in ihrer neuen Umgebung etwas Gesellschaft gefunden hat und dadurch hoffentlich den notwendigen Wechsel in ihren Lebensumständen nach und nach meistert.
Für die Absicht, mich zu ihrem 81. Geburtstag einzuladen, danke ich sehr. Doch es möge mir bitte nachgesehen werden, daß ich die Gelegenheit einer Reise gemeinsam mit Waltraud zum 83. Geburtstag ihrer Tante in Karlsruhe nutzen möchte, wofür dann meine letzten diesjährigen Urlaubstage verwendet werden. Am 30. Oktober sollen wir unser Ausreisevisum bekommen und am 11. November werden wir nach Karlsruhe fahren. Einen Umweg über München auf der Rückfahrt haben wir nicht im Sinn, ich werde Euch jedoch von Karlsruhe aus selbstverständlich mal anrufen.

Vorgestern erhielten wir aus Weimar die betrübliche Mitteilung, daß dort Waltrauds Tante (78) plötzlich verstorben ist. Am kommenden Dienstag ist die Trauerfeier und seit langer Zeit werden sich bei dieser Gelegenheit alle vier Schwestern wieder einmal treffen.

Anke bringt nun hier fleißig Kinder zur Welt und sie hat sich nach meiner Meinung schon recht gut in ihr Arbeitskollektiv eingelebt. Jetzt besucht sie nun auch die Fahrschule und es wird nicht lange dauern, bis sie unseren Trabant auch sicher fahren kann.


Soeben klingelte das Telefon und von Hille erfuhr ich (über Ingrid), daß Ihr Euch derzeit recht um Euere Mutter sorgen müßt. Das tut uns natürlich sehr leid und wir hoffen auf baldige Besserung. Sofern möglich, richtet ihr bitte unsere herzlichen Grüße aus.
Bei gleicher Gelegenheit meldete sich Bolko am anderen Ende und informierte über eine bestandene Prüfung, vor der er (und wir mit ihm) seit dem Wochenende Bammel hatte. Am vergangenen Wochenende war er mit seiner Freundin hier, das schöne Herbstwetter hatte ihn bewogen, nochmals eine Motorradfahrt zu machen und die Maschine nun hier stehen zu lassen (was ich sehr begrüßte).

Ihr Lieben alle, mit diesen Informationen will ich mein Schreiben beenden. Wir wünschen Euch alles Gute.

Viele herzliche Grüße

 

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