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Brief (Transkript)

Alfred S. aus Pirna an Rudolf S. nach Mühlheim/Ruhr am 18.06.1949

 

(10a) P i r n a, den 18. Juni 1949,
[Straße und Hausnummer]

Ihr Lieben alle; Rudolf, Dorette, Klaus, Ulrich und Ingrid!

Aller Anfang ist schwer und so ist es mir auch nicht leicht, den Faden wieder aufzugreifen, um die vom Zeitenlauf scheinbar etwas versandete Verbindung wieder aufzunehmen. Es ist seit Monaten ein Drängen nach hier und dort und selbst mir unverständlich, wie es sich ergeben konnte, alles so auf sich beruhen zu lassen. Mancherlei Briefschulden liegen vor und niemals will es werden, den Augenblick erfassend, die Verbindung wieder herzustellen. Vielerlei war zu berichten, manches unterblieb besser in der gehegten Hoffnung einer persönlichen Verständigung, die uns manches ungesprochene Wort lösen könnte.
Allem voran ist es uns eine Freude, Euch nun beieinander zu wissen, Dorettes letzte Post vom 6.6.49 (eingeg.15.6.49) läßt dies hoffen. Rudolfs letzter Brief vom 29.5.49 ist am 8.6.49 eingetroffen. Auch Oma Lange Straße hat Nachricht erhalten. Eine allgemeine Müdigkeit läßt manches zurückstellen, was besser belebt erhalten bliebe und was auch wieder sein soll. So will ich denn Euch verschiedenes berichten, um Euch ein Bild zu geben, was sich getan hat im Verlauf der Zeiten. Im allgemeinen geht alles seinen Gang. Wir sind nur ein bescheidener Teil in dem großen Geschehen, das uns mehr oder weniger erfaßt, um uns mit einigen Älterwerden der ungewissen Zukunft zu überantworten. Dabei leben wir alle in der Hoffnung, daß wir noch einmal lichtere Tage erleben. Es bestätigt sich immer wieder, daß wir alle in einer Welt leben und dennoch hat ein jeder seine eigene. Und dennoch bricht es manchmal ein, da ist man nicht Herr seiner selbst, da sind äußere Kräfte am Werke, die zu bestimmen haben und diese Spannungen können einem schon zu schaffen machen. Manchen hat es hart getroffen.
Wir stehen immer noch in den Tagen besonderen Leides. Am Dienstag haben wir Onkel Emil zur letzten Ruhe geleitet. Nach einem monatelangen Krankenlager ist er am 10.d.M. in seiner Wohnung ruhig eingeschlafen. Es war ein hilfloses Kranksein. Ich besuchte ihn noch kurz vor den Pfingstfeiertagen und Oma S. war am 9.d.M. noch bei ihm. Ein Blasenleiden hat ihm zu schaffen gemacht. Das Sprechen fiel ihm schon seit Wochen schwer und in den letzten Tagen wollte es garnicht mehr gehen. Tante Ida ist nun allein. Frida D. bemüht sich um sie. Ich war am Nachmittag mit Lotten zu einer Tasse Kaffee noch drüben im Familienkreise. Mehrere Frauen waren noch da aus Tante Idas Verwandtschaft, alles Witwen, auch ein Zeichen der Zeit. – Auch in unserer Familie war große Sorge. Oma K. liegt seit Februar. Anfang März war es so schlimm, daß wir auf alles vorbereitet waren. Und es hat sich aber wieder gemacht. Seit 14 Tagen kraucht sie jeden Tag einmal nach dem Sofa, um die Lage einmal zu ändern. Am Sonntag saß sie für kurze Zeit mit am Tisch. Wir haben die Hoffnung, daß sie ihren 81.Geburtstag Ende des Monats ganz gut bestehen wird. Für Lotte ist es schwer. Seit Monaten schläft sie im Wohnzimmer, um immer gleich zur Hand zu sein, wenn Hilfe not tut. Neben allem anderen könnt Ihr Euch denken, was dann auf ihr lastet. Es sind andere Sorgen, als die Euren, aber auch sie wollen getragen sein. Wir jammern darob auch nicht, gedenken immer dankbar unserer sonstigen Gesundheit, unseres friedlichen und erhaltenen Zuhauses und Beisammenseins. Wohnlich hat sich nichts geändert. Oma wohnt seit über einem Jahr in ihrem Zimmer, daß nun auch zum Krankenzimmer geworden ist. Im kleinen Zimmer habe ich mir mein Büro eingerichtet. Bei Oma ist es ausgesprochen Altersschwäche und dazu kommen rheumatische Beschwerden, die ihr den Tag und auch die Nacht verleiden.
Wenn ich von Lotten berichten soll, dann nur kurz, daß sie früh die erste und zum Abend die letzte ist im Haus. Es geht nicht anders, als daß sie sich am Nachmittag eine gute Stunde Ruhe gönnt, um wieder frisch zu sein für den Verlauf des weiteren Tages. Es kommt hinzu, daß sie an die Gasstunden früh von 6 – 7 und Nachmittag von 18 – 19 Uhr gebunden ist. Die Ernährungslage ist insofern gebessert, als wir in diesem Jahr keine Sorge um die Kartoffeln hatten. 1948 waren sie für uns am 1.Mai alle, dieses Jahr ging es einige Wochen länger und jetzt konnten wir den Zentner um 5,- DM frei kaufen. Mit dem Brot halten wir so hin nur mit den Fettigkeiten steht es nach wie vor schlimm. Familienhilfe setzte ein, wir legten zusammen und kauften etwas Öl, der Liter kostet jetzt um 70 DM. So hoffen wir ein Stück weiterzukommen. Es ist ein Hundeleben. Bis Februar bekam ich Arbeiterkarte wie Volkmar. Dann mußte für mich ein Antrag auf Neueinstufung gestellt werden und seither bekomme ich die Karte 4 wie unsere armen immer rührigen Hausfrauen und die Gemächlichen, die Zeit und Muse haben, sich den ganzen Tag im Friedenspark zu sonnen. An Arbeit mangelt es mir nicht. Ich bin unverändert beruflich tätig, habe dazu einen gewissen Dauerauftrag, daß ich die fachliche Leitung eines kleinen Baugeschäftes übertragen bekam, das ein ehemaliger Pg. und gehobener Soldat wegen Gewerbeentzug verpachten mußte und deshalb an seinen alten Polier abgetreten hat. Die Arbeit nimmt mich jede Woche zwei bis drei Tage in Anspruch und stellt mich auch hinsichtlich der Zusammenarbeit mit den Leuten allen zufrieden. Wir bauen Neubauernstellen in Falkenhain und Maxen (Müglitztal). Dort sind größere Güter enteignet und in den Ländereien aufgeteilt. Flächen von etwa 10 ha sind an landwirtschaftliche Arbeiter und Bewerber verteilt. Nun können sie sich mit stattlich finanzieller Hilfe eine Unterkunft bauen, müssen aber selbst tüchtig mit zugreifen. Unter einem Dach wird ihnen ein bescheidenes Heim mit Stall und Scheune erbaut. Darüber hinaus habe ich mit Wehlen noch etwas Verbindung. Der Mangel an Baustoffen unterbindet aber alle Vorhaben. Vordringlich wird für die Neubauern und in der Industrie in den VEB-Betrieben –volkseigene Betriebe- gearbeitet. Es gibt fast nur noch volkseigene Betriebe. Nur wenige kleinere und mittlererPrivatunternehmen bestehen noch, es ist aber ein kurzatmiges Dasein. – V o l k m a r hat im Herbst seine Gesellenprüfung gemacht und ist in Pirna-Copitz in einem noch Privatbetrieb für Karosseriebau untergekommen. Es sind ihrer zwei Stellmacher und im übrigen Schlosser und Schmiede. Der Chef ist ein junger rühriger Unternehmer, der nicht in der Partei war, weil er immer nur Arbeit kannte. Volkmar sagt sein Beruf zu und auch wir glauben recht getan zu haben, diesen Entschluß gefaßt zu haben. Nebenher nimmt er schulischen Unterricht und betätigt sich zu Hause, wo es fehlt. Viel ist er in der Langen Straße. Dort hat er sich in der Dachlaube ein Lieblingsplätzchen eingerichtet, um Schularbeiten zu machen und von des Tages Lasten zu ruhen. – H i l l e ist seit Montag, den 13.d.M. mit einem Kinder transport der Volkssolidarität nach Kleingießhübel in ein Kindererholungsheim auf vier Wochen. Kl. liegt am Fuße der Zschirnsteine. Die Vermittlung erfolgte durch die Schule, wobei untergewichtige Kinder bevorzugt sind. Dabei ist sie munter und mobil, es fehlt aber am Nötigsten. Wenn alles gut geht, dann können wir hoffen, daß sie über die großen Ferien noch einmal von der Inneren Mission nach dem Vogtland kommt, wo wir uns hingewendet hatten. Die Aufnahme in der Volkssolidarität kam uns dazwischen und ging vonder Schule aus. Mit G.s hat es noch nicht geklappt. Lotte hat sich laufend darum bemüht. Aus unserer Zone sind aber keine Kindertranspoete dorthin gegangen. Vorerst sind wir auch so dankbar, daß es endlich einmal möglich war. Eine zusätzliche Kost wird ihr schon gut tun. – Wir wiegen uns alle 4 Wochen. Am 9.d.M. hatten wir ich 134, Lotte 98,5 Volkmar 105,5 und Hille 48,5 Pfd. Vor einem Jahr war ich wegen unserer Gartenarbeit auf 125 herunter. In diesem Jahr schanzte ich nicht so sehr Ob wir die Beete im kommenden Jahr noch bestellen können, das wissen wir noch nicht. Möglicherweise müssen wir aufgeben, ein Betrieb ist in das Grundstück gekommen. In diesem Jahr ist es zu kalt, es wächst recht langsam, dazu hatten wir viel Regen und kaum Sonne. Früh um 5 bzw. ½ 6 haben wir jetzt immer nur 10 auch 11° Wärme, das ist für Juni zu wenig. Dennoch ist uns das wenige Land eine Hilfe für die Küche. – Seit vorigen Jahr haben wir Kaninchen. Mit zwei Stück haben wir angefangen. Wir bekamen sie im Juli 48. Der Stall steht auf dem Austritt am Schlafzimmer. Ein Kaninchen schlachteten wir zu Hille Geburtstag. Es wog ausgeschlachtet 5 Pfund und 90 Gramm und hatte dabei 250 Gramm Fett. Das andere schlachteten wir zu Volkmars Geburtstag, Es wog ausgeschlachtet 5 Pfund und 100 Gramm und hatte 750 Gramm Fett. Das waren einmal schöne Tage. Jetzt haben wir 6 junge Kaninchen. Zwei brachte ich von Maxen mit, drei bekamen wir in Pirna und eins kam noch aus Lohmen dazu. Ich muß nun immer tüchtig für Grünes sorgen. Die Anlagen und unser Beetgarten kommt uns dabei zu Gute. – Die öffentliche Fleischzuteilung ist sehr karg. Die Pfingstfeiertage selbst, wie die ganzen Wochen, waren fleischlos. Als große Seltenheit gab es diese Woche einmal Seefisch. Und dennoch, auch der Westen, der uns immer so Golden hingestellt wird, er hat sicher auch sein Aber. Wenn es nur Euch gelingt gut Fuß zu fassen, denn eine stille Sorge ist es uns doch auch.
Oma S. ist unverändert mobil. Einmal so, dann wieder so. Regelmäßig zumindest Sonntags findet sie sich ein. Hinund-wieder fährt sie mit dem Schiff einmal nach Zschieren, dort ist Marie R. verheiratet. Bis zum Friedhof kann sie nicht mehr gehen. Der Weg ist ihr zu beschwerlich. Im Schlafzimmer hatte sie bis jetzt ein Ehepaar aus Ostpreußen. Gute, ehrliche, ruhige Leute. Sie sind aber vor wenigen Wochen zu ihren Töchtern nach Westfalen abgereist und gut angekommen. Jetzt wohnt ein junger schlesischer Flüchtling bei ihr, der seine Familie auch im Westen hat. Im Grundstück gibt es immer viel Verdruß. Oma hat es manchmal tüchtig satt. Manchmal liegt es aber auch an ihrem etwas Ungeschick mit den Leuten umzugehen. Ich denke aber doch zu halten, solange es geht. Von den alten Mietern werdet Ihr Euch des Ehepaares H. noch erinnern. Sie haben noch ihre alte Wohnung. Von Arthur H. bekam ich vor Wochen wieder einmal Nachricht. Er ist mit seiner Frau nach München übersiedelt und wohnt dort mit der Familie von Rosa in einer selbst aufgestellten und baulich erweiterten Baracke. Letzte Nachricht von ihm kam an Fanni H., die am 11.d.M. ihren 75. Geburtstag hatte. Ich habe es auch erst dieser Tage erfahren, ich besuchte sie. Fanni H. hat einige Monate wegen Oberschenkelhalsbruch im Krankenhaus gelegen. Sonst und jetzt wieder wohnt sie mit bei Walter in der [Straße und Hausnummer]. Walter ist noch bei der Friedhofsverwaltung tätig. Er macht den Rennfahrer. Er hat immer die Stadtwege zu besorgen und scheint sich ganz wohl zu fühlen. Mit seiner Postanstellung war es nichts mehr. Der eine seiner beiden Jungen hatte auch 16 Pfd. Untergewicht. Er ist jetzt einige Wochen in der Lausitz gewesen und hat sich gut herausgefuttert. Arthur H. bekommt auf Grund seines Berufes bei der Reichsbahn eine kleine Alterspension und ist somit vor dem Schlimmsten bewahrt. Für mich ist diese Frage noch nicht geklärt, wie es einmal werden soll. – Bei der Familie H.-K. ist wenig geändert. Walter H. ist als Buchhalter in einem VEB-Betrieb untergekommen. Dem eleganten Junior haben sie das Abitur verdarbt, er volontiert jetzt in einem VEB-Betrieb in Niedersedlitz. Elsa ist sehr abgedarbt. Mariechen ist noch Filialleiterin in der Färbereiannahme in der Dohnaschen Straße. Tante K. habe ich lange nicht gesehen.
Die Firma B & N hat sich immer noch als selbstständiges Unternehmen gehalten. Ich sprach gerade dieser Tage mit einem Arbeiter der Firma. Herr M. hat sein neues Grundstück in Dresden (1928 erbaut) durch die Angriffe verloren. Er soll in Oberbärenburg in einem eigenen Grundstück wohnen. Von G. hörte ich kürzlich, daß er nach dem Westen abgerückt sei. Von den anderen Herren kenne ich zu wenig. Man sieht noch M., L. und auch manchmal K. Bombenschaden hat die Firma nicht erlitten. – Der Pirnaer Anzeiger ist erstensmal demontiert, die Betriebsanlagen ausgebaut und jetzt sind auch noch alle drei Gebäude sequestriert. d.h. in die öffentliche Verwaltung übergegangen. Eine eigene Zeitung gibt es in Pirna nicht mehr. Führend ist die Zeitung der SED, sie kommt aus Dresden. Es gibt auch die LPD und auch die CDU eine Zeitung heraus. Der Inhalt ist der Ausdruck der Zeit.
Jetzt denke ich noch an den Reisekorb. Von Doretten kamen zwei Vordrucke, Dazu kann ich aber mitteilen, daß ich die Sache von mir aus soweit vorangetrieben habe, daß die Bahn den Verlust anerkennt und Ersatz leisten will, Ersatz d.H. in bar. Ich habe für nächste Woche eine Schätzerin bestellt, die uns amtliche Werte für die einzelnen Stücke aufsetzen soll. Dieser Antrag geht dann wieder an die RD-Dresden. Das Verzeichnis habe ich alles noch da, es ist ja auch längst an die Bahn eingereicht. Wir müssen nun nur die Werte noch aufstellen nach 1944-er Preisen. Ich hatte Ersatzstücke aus Fundgut beantragt, damit läßt sich die Bahn aber nicht ein, sie hätten nichts da. Ich werds wieder berichten.
Ich glaube, nun habe ich wieder einmal berichtet, wie es um und steht. Dennoch möchten wir uns einmal sprechen können. Ich weiß nur noch nicht wie. Vielleicht kommt doch einmal eine Reise zustande, vorerst ist es aber auch für mich noch nicht möglich. Finanziell ist es nicht so rosig wie es scheinen möchte. Und nun sagt uns aber, wie es um Euch steht. Bis dahin begrüßen wir Euch alle recht herzlich!
Euer Alfred

 

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