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Brief (Transkript)

Karin K. aus Ludwigsfelde an Ingrid K. nach West-Berlin am 30.12.1989

 

30.12.89

Liebe Ingrid!
Vielen Dank für Deine Weihnachtskarte. Ja, es stehen uns jetzt Tür und Tor offen, was für ein Gefühl! Die letzten Wochen sind schwer zu beschreiben. Man hat nicht die Zeit sich an einen Zustand zu gewöhnen, alles kommt und geht so rasend schnell. Gutes und schlechtes liegen so eng beieinander, so vieles muß im Kopf geordnet werden und so richtig glauben kann man es gar nicht. Es ist so unwirklich, was überall in der Welt innerhalb kurzer Zeit geschehen ist. Geschichte wurde in wenigen Wochen geschrieben. Ich war bisher zweimal in Westberlin. Einmal habe ich in Zehlendorf eine Cousine meiner Mutti besucht, und dann war ich mit Jana in der Wilmersdorfer Straße zum bummeln. Als ich in Zehlendorf war, habe ich von der westlichen Seite beobachtet wie die Mauer abgebaut wurde und der Übergang Düppel eröffnet wurde zu Klein-Machnow hin. Es war schon ein phantastisches Gefühl die Mauer von der anderen Seite zu sehen und zu wissen, sie ist jetzt durchlässig. Gleich hinter dem Übergang auf der westlichen Seite war ein Kreuz für einen jungen Mann, der vor Jahren dafür erschossen wurde, was jetzt für uns kein Problem mehr ist. Nachdenken darf man nicht, es ist zu schlimm was man mit unseren Menschen in den vielen Jahren gemacht hat. Was jetzt auf uns zukommt ist noch sehr ungewiß und erzeugt viele Hoffnungen aber auch viele Ängste. Bis jetzt waren wir eingesperrt und damit auch abgeschirmt und behütet auf eine fatale Weise. Wir müssen wieder lernen uns auf unsere eigenen Beine zu stellen und mit uns selbst umzugehen. Wir haben so vieles nicht gelernt und werden künftig wohl noch vieles oft wie ein Kind staunend den Weihnachtsbaum betrachten. Wir wollten die Demokratie mir aller Macht und müssen jetzt die Licht u. Schattenseiten erfahren. Ich hoffe nur, daß bis zum Mai 1990, bis zu den Wahlen, alles etwas durchsichtiger und überschaubarer wird. Zur Zeit weiß ich wirklich noch nicht, wem ich meine Stimme geben würde, es bleibt abzuwarten, ob die neuen Parteien sich genug profilieren können, um wählbar zu sein. Hier in Ludwigsfelde liegt alles noch im Schlaf, wie im Dornröschenschloß. Man kann ja auch keine Wunder erwarten. Liebe Ingrid, ich würde mich sehr freuen, wenn wir uns treffen können. Es ist mir egal wo, wenn Du willst, bei mir oder bei Dir, es ist ja nun weder das eine noch das andere unmöglich. Seitdem sie jetzt mehr Leitungen gelegt haben, ist von Eurer Seite aus das Telefonieren kein Problem mehr. Also rufe mich doch bitte an [Telefonnummer], ich bin auch abends bis 22.00 Uhr immer zu erreichen. Ich weiß ja Deine Tel.-Nr. nicht. Vielleicht schreibst Du sie mir, oder rufe doch einfach gleich mal an, wenn Du den Brief erhältst. Ich würde mich sehr freuen, wenn wir den Kontakt zueinander aufrecht erhalten.

Viele liebe Grüße auch an Boris von
Karin u. Jana

 

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