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Brief (Transkript)

Herbert und Hannelore V. aus Buckow an Hermann S. nach Marbach am 03.01.1966

 

Buckow, am 3. 1. 1966

Ihr Lieben alle in der Nähe und in der Ferne!

Viele von Euch haben sicher schon angenommen, uns gibt’s nicht mehr, weil wir so lange nichts von uns hören ließen. Aber die beigelegten Bilder sollen Euch zeigen, daß wir noch vollzählig existieren und alle zugenommen haben an Alter und an Gewicht.
Wir haben auch unserem Hause „Rehoboth“ die Treue gehalten, wir Ihr an beiliegendem Rundbrief seht. Dieser Brief geht an alle alten Freunde und Gäste unseres Hauses, und wir dachten, wenn wie ihn Euch beilegen, brauchen wir das, was das Haus betrifft, nicht noch einmal für Euch aufzuschreiben. So beschränken wir uns diesmal auf Nachrichten aus unserer Familie. Vieles haben wir Einzelnen von Euch bereits in früheren Briefen geschrieben. Diejenigen mögen uns die Wiederholungen verzeihen. –

Seit Anfang März gehen unsere beiden Großen von 8 -12 Uhr in den Kindergarten. Für uns ist das eine ganz große Erleichterung, denn vormittags, in unserer „Stoßzeit“ haben wir dann nur noch unseren Tobias daheim, und mit ihm allein werden wir schon fertig. Die beiden kommen dann gegen 12.30 Uhr nach Hause, haben im Kindergarten bereits Mittag gegessen und können sofort ins Bett zum Mittagsschlaf. Wie gesagt, eine große Hilfe für uns und für die Kinder Vorbereitung auf die Schule, denn die 1. Klasse wird auf den Kindergarten aufgebaut. Es ist ein staatlicher Kindergarten, aber in einer so kleinen Stadt wie Buckow gibt es da für uns wahrscheinlich weniger Probleme als in einer Großstadt. Hier kennt fast jeder jeden, und wir haben den Eindruck, daß unsere Kinder in guten Händen sind. Christfried geht liebend gern in den Kindergarten. Er ist verträglich und spielt gern mit vielen Kindern. Unser Großer hingegen tut jeden Morgen erst einen Seufzer, ehe er geht, denn er ist lieber allein und bastelt für sein Leben gern, wobei er nicht gestört sein möchte. Übrigens sammelt er jetzt leidenschaftlich Briefmarken aller Länder, und es sei Euch hiermit bekanntgegeben, daß diejenigen von Euch, die ihre Briefe an uns mit besonders schönen Marken bekleben, von Friedemann (zumindest in Gedanken) eine stürmische Umarmung zu erwarten haben! –

Weil ich gerade „stürmisch“ schrieb: unsere Sommersaison war auch wieder danach! Es waren wieder wunderschöne und unvergessliche Monate, aber anstrengend. Besonders viele ausländische Gäste aus Ungarn, Polen und der CSSR waren da, die jüngeren nahmen an den Rüstzeiten teil, die älteren – meist Pfarrehepaare – waren uns lieber Privatbesuch. Oft sprachen sie nur wenig deutsch, und dann sind die Unterhaltungen besonders anstrengend. Aber wir haben uns auch wieder geschämt, mit welcher Selbstverständlichkeit wir von einem Ausländer verlangen, er möge deutsch sprechen, während wir nicht daran denken, eine der östlichen Sprachen zu lernen.
Besonders nett war der Empfang eines indischen Gastes, Pfr. Aind. Es war gerade eine Singerüste im Hause, die sich auch mit alten Tänzen befasste. Zuerst wurde der Gast natürlich wieder „auf indisch“ empfangen, mit dicker Blumengirlande, Handwaschung, Begrüßungsrede. Dann stand schon ein Sessel für ihn bereit, von dem aus er unseren Garten übersehen konnte. Und dann tanzte ihm die Gruppe ein Menuett vor nach einem Tonband mit alter Kammermusik. Es war bezaubernd anzusehen. Danach gab es einen interessanten Abend (auch ein wenig aufregend, denn der Gast sprach und verstand nur englisch).
Ein andermal spielte ein tschechischer Bruder ein ausgezeichnetes Orgelkonzert in unserer Kirche. Immerzu aber gab es gute und fruchtbare Begegnungen und Gespräche. Selbstverständlich kam der Schlaf dabei zu kurz, aber wir sehen noch keine Lösung dieses Problems. Tagsüber der große Haushalt, Gäste, Kinder. Da bleibt für Gespräche nur der Abend – und der wird dann meist sehr lang. –
Mitten in der Saison kündigte unsere Küchenhilfe, weil sie in einem staatlichen Hotel mehr verdienen kann und allerhand Vergünstigungen hat. Sie war gern bei uns, aber die materiellen Dinge haben eben eine große Zugkraft. Wir waren erst sehr deprimiert, bekamen dann aber einen Ersatz, wie durch ein Wunder. Diese junge Frau arbeitete nämlich bereits als Aushilfe woanders und mußte dort genau an dem Tage aufhören, wo wir sie brauchten. Sie half uns dann treulich den Sommerhindurch vormittags. Doch für das nächste Jahr haben wir wieder niemanden, denn sie hat sich eine Arbeitsstelle mit 8 Stunden Arbeitszeit am Tag gesucht. Wir aber dürfen nur eine 4-Stunden-Kraft einstellen. Nun hoffen wir wieder auf ein Wunder.-

Endlich im Oktober nahte der Urlaub. Es war, als wollte in diesem wundervollen Herbst der ganze Sommer nachgeholt werden. Wir wohnten in Prerow auf dem Darß in einem winzigen Häuschen mit dickem Schilfdach. Diesmal durfte Christfried mit. Während im Sommer – wie wir erfuhren – die Gäste wegen des schlechten Wetters abreisten, hatten wir strahlende Sonne all die Tage und herrliches Badewetter (um ehrlich zu sein, Herbert war jeden Tag in den Wellen, ich nicht!).
Als wir heimkamen, fuhren die R.-Eltern mit Gabriele an denselben Ort. Auch sie hatten noch gutes Urlaubswetter und kamen erholt und braun und mit dicken Räucheraalen zurück. Bis dahin ging es uns gesundheitlich ganz gut. Doch dann fing das Dilemma an. Christfried legte sich mit Ohrenschmerzen und tollem Bellhusten ins Bett. Kurz danach folgte Friedemann, ebenfalls mit Erkältung, die sich schließlich zu einer schikanösen Lungenentzündung entwickelte. Den ganzen November über haben wir nachts kein Auge zugetan. Nach 3 Wochen ging es mit Friedemann bergauf. Er hatte 10 Tage nicht das geringste gegessen und war zum Skelett abgemagert. Jetzt aß er für drei und langsam bekam er wieder etwas Fleisch an die Knochen. Dafür lag nun Tobias, und gleich mit dreierlei: Mittelohr-, Bindehaut- und Blasenentzündung. Die letztere raubte uns sämtliche Ruhe, weil das arme Kerlchen alle 3 Minuten meinte, aufs Töpfchen zu müssen, und jedes Mal war es bloß blinder Alarm. Das ging 14 Tage und Nächte so, bis sie dann, Gott sei Dank, kurz vor Weihnachten alle wieder ganz mobil waren. Ein Glück, denn nun ging es bei uns Erwachsenen los: eine Grippewelle. Oma R. erwischte es zuerst. Dann kam ich dran, genau über die Feiertage. Doch auch das ging vorbei, und wir meinten schon, Luft holen zu können. Da brachte uns Christfried die Windpocken mit aus dem Kindergarten. Damit liegt er nun jetzt im Bett, und wir warten nur darauf, daß die anderen beiden auch damit anfangen. –

Aber dieser Brief soll ja nicht etwa ein Klagegesang sein. Wir haben ja soviel Schönes in dieser Weihnachtszeit erlebt. Zum Beispiel lud die Junge Gemeinde die Gesamtgemeinde zu einem Adventsabend ein mit Liedern, Spielen, Gedichten und Pfefferkuchen. Die jungen Leutchen bereiteten alles mit Feuereifer vor, und wenn auch die Begrüßungsrede sehr holprig war, weil der Junge, der sie zu halten hatte, zu aufgeregt war, so war es doch ein sehr netter Abend. An andern Abenden wurde viel gebastelt mit Stroh, Silberdraht, Rohr und zum ersten Mal brannten wir Emaille. Es war aufregend! Aber die gelungenen Stücke – Anhänger, Leuchter, Manschettenknöpfe – lohnten die Mühe. –

An meinem Geburtstag war ich ganz allein. R.s waren in Urlaub, Herbert zu einer Tagung. Trotzdem war es so schön wie selten, denn die Kinder gaben sich redliche Mühe, mir einen richtigen schönen Geburtstag zu bereiten. Sie waren ja so aufgeregt. Frühzeitig, als ich aufstand, wurde ich in die Küche verbannt. Ich hörte eifriges Tuscheln und Rascheln: sie richteten den Geburtstagstisch her! Dann hörte ich Friedemann kommandieren: „Kommt, alle in einer Reihe aufstellen!“ Und endlich rief er: „Du darfst kommen!“ Als ich die Tür öffnete, standen sie alle drei in Schlafanzügen da, hatten sich bei den Händen gefasst und sangen: „Weil ich Jesu Schäflein bin …“ Sie waren zum Anbeißen und haben mich wirklich richtig ein bisschen aus der Fassung gebracht, die Burschen!
Überhaupt – Singen ist bei allen Dreien groß geschrieben. Jetzt um Weihnachten machen wir jeden Abend eine Lichterstunde mit Erzählen, Vorlesen und Singen. Das ist d i e Stunde des Tages. Friedemann bekam im Kinderchor ein Quexpaz-Heft und liebt es so sehr, daß er es sogar abends unter sein Kopfkissen legt. Großen Spaß gibt es immer, wenn wir das Lied: „Wenn Weihnachten ist …“ singen. Da heißt der Kehrreim: „Eia, Weihnacht, Weihnacht ist ein schönes Fest!“, aber Tobias singt zum Gaudium seiner Brüder: „Eia, auweia, Weihnacht ist ein schönes Fest!“

Am Heiligen Abend hatte Herbert keine Predigt-Vertretung, nur zu Sylvester. So hatten wir zum ersten Mal Zeit! Da wir keine Gäste hatten, putzten wir vormittags schon das Bäumchen in unserem Speisesaal an, so daß wir es abends nur ins Wohnzimmer hineinzutragen brauchten. Nach der Christmette gingen die Kinder gleich ins Bett, und am 1. Feiertag früh ist bei uns die Bescherung, weil die Buben dann den ganzen Tag Zeit haben für ihre neuen Spielsachen.
Friedemann sah zuerst nichts als seinen fernzulenkenden Raupenschlepper. Ein langer Draht verbindet das Fahrzeug mit der Batterie, die man in der Hand hält und mit der man es in alle Richtungen lenken kann. Aber dann gab’s ja noch so viele andere Dinge zu bewundern – die neuen Bausteine, Bilderbücher, Christfrieds Pferd und Wagen, Farbkästen, Kasperlepuppen und ein dickes „Grimms Märchenbuch“. Christfried war selig über die neuen „Baufix“. Nun hat er genug Material, um auch größerer Projekte zu bauen. Da sitzt er in einer Ecke und schraubt die Teile zusammen, und die Zunge macht alle Bewegungen der Finger mit. Höhepunkt war, als der Vati sich mit Christfried zusammentat und ihm einen Riesenkran baute. Der Bub konnte es erst gar nicht fassen, daß der Vati sich soviel Zeit für ihn nahm, und sein ganzes Glück seufzte er in dem einen Satz aus sich heraus: „So einen Vati hab’ ich noch nie gehabt!“
Unser kleiner Tobias erlebte zum ersten Mal bewußt das ganze Fest und war kaum zu bändigen in der strahlenden Freude über seinen Gabentisch. Den Vogel abgeschossen haben bei ihm wohl seine Patentanten mit einem kleinen braunen Plüschaffen, den er zärtlich liebt und mit einem Kugelspiel, bei dem er mit den Großen gleichberechtigt mitspielen darf. – Von den Großeltern bekamen alle drei einen Handwerkskasten mit richtigen kleinen Werkzeugen. Wir dachten, für Tobias sei das ja noch nichts, aber man staune, er war der erste, der ein dickes Brett fest an den Kinderzimmer-Fußboden nagelte, ganz fachmännisch! –
Herbert und ich hatten uns eine Menge Bücher – meist Neuerscheinungen von der Herbstmesse – gekauft, und so trafen wir die feierliche Abmachung, daß dies unser gemeinsames Weihnachtsgeschenk sei und wir uns keine anderen Geschenke machen wollten. Wer diese Abmachung natürlich brach, war mein Schatz, mit der schlagenden Begründung, daß die Bücher ja doch alle in sein Zimmer kämen und ich dann sozusagen weniger davon hätte. Also überraschte er mich mit einem wundervoll schlichten, aber kunstvoll gestalteten Teewagen, den ich mir schon jahrelang gewünscht hatte. Laut sagte ich: „So ein Verlaß ist also auf die Männer!!“, aber inwendig hüpfte ich vor Freude an die Decke. Und da mein Mann durch sieben eiserne Türen sieht, sah er natürlich auch die Freudensprünge und war’s zufrieden. –

Ja, nun kommt eigentlich die Hauptsache, nämlich, daß wir Euch allen, die so liebevoll mit Briefen und Päckchen an uns gedacht haben, nochmals von ganzem Herzen danken. Wie viele Überraschungen haben uns in den Weihnachtstagen erreicht (einschließlich Ruth’s Verlobungsanzeige!)! Uns bleibt nur: „Vergelt’s Euch Gott“ zu sagen.

Schließlich möchten wir Euch allen für das neue Jahr Gottes Segen Wünschen, der Euch ja in allem umfaßt: in Gesundheit und Krankheit, in Freude, Schmerz, Glauben und Verzagtsein. Und wir grüßen Euch herzlich mit dem Wort Jochen Kleppers, das uns Weihnachten aufs neue groß geworden ist:

Wer schuldig ist auf Erden, verhüll nicht mehr sein Haupt,
er soll errettet werden, wenn er dem Kinde glaubt!



Liebe S.s!

Ganz herzl. Dank für Ihren lieben ausführlichen Brief! Es ist wirklich die einzige Möglichkeit, einmal im Jahre ausführlich zu berichten. Und dank auch für das süße Foto.
Bleiben Sie alle von Herzen gegrüßt
von Ihren 5 V.s.

 

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