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Brief (Transkript)

Herbert und Hannelore V. aus Buckow an Hermann S. nach Marbach am 31.12.1964

 

Buckow, am 31. 12. 1964

Ihr Lieben hier und dort!

Wie schnell vergeht doch so ein Jahr! Es kommt mir vor, als hätte ich eben erst noch Blumen geschnitten im Garten – und hast Du nicht gesehen, ist schon wieder Winter und sogar das Weihnachtsfest vorbei. Vielen von Euch haben wir keinen Weihnachtsgruß geschickt, weil wir es tatsächlich nicht schafften. Das soll nun dieser Neujahrsgruß ein wenig wieder gut machen. –

Das vergangene Jahr war ein „dicker Hund“, wie man so schön sagt, und jetzt am Jahresende merken wir, daß es mit unseren Kräften und unseren Nerven nicht besonders gut bestellt ist. Trotzdem war es wieder ein reiches Jahr mit sehr vielen guten Begegnungen und Gesprächen.

Anfang des Jahres waren wir für 14 Tage Gäste in der CSSR. Das war eine erlebnisreiche Zeit, und wir konnten viele Erfahrungen und Anregungen für uns und die Arbeit in der Gemeinde mit heimnehmen. Das Erschütterndste war vielleicht, daß wir in fast jeder Gemeinde, die wir besuchten, gefragt wurden, ob Deutschland auch wirklich keinen Krieg wieder beginnen wird. Und dazu die Begegnungen mit prächtigen Gemeindemitarbeitern, die in KZs gesessen haben oder verschleppt waren. Wenn man dort trotz alledem mit warmer Herzlichkeit aufgenommen wird, dann wird man sehr schnell ganz klein und merkt, was die Liebe alles zu überwinden im Stande ist. –

Doch auch in unserem Hause waren ökumenische Gäste, sieben aus der CSSR und einer aus Indien, nämlich Dr. Saben S. vom Theol. College in Ranchi. Es gab interessante Vorträge und heiße Diskussionen, und immer waren die Nächte zu kurz.

Einen Strich durch die Rechnung machte uns der lange Krankenhausaufenthalt von Dorle R., unserer Mitarbeiterin. Sie legte sich gerade hin, als die Saison begann, und so hatte Herbert 7 Rüstzeiten á 14 Tage hintereinander zu halten, ohne Pause. Das war ein bisschen zuviel des Guten.
Dazu kam noch eine eigenartige Infektionskrankheit unter den Gästen, die zwar alle Beteiligten gut überstanden, die aber doch eine Menge Mehrarbeit brachte und um deretwillen das ganze Haus vom Dach bis zum Keller gründlich desinfiziert werden mußte. Es ging aber alles vorüber, und wir sind sehr dankbar, daß keiner von uns – weder wir noch unsere Eltern –ernsthaft krank war und der ganze Saisonbetrieb reibungslos zu Ende geführt werden konnte.-

Unseren Urlaub verbrachten wir in diesem Jahr auf dem Darß, in Prerow, wo wir uns sogar soweit aufrafften, einigen von Euch eine Karte zu schreiben! Es war eine wunderbare Ferienzeit, ein schöner, warmer Herbst. Fast jeden Tag konnten wir baden, was ja im Oktober gar nicht so selbstverständlich ist. Friedemann durfte mit, die beiden Kleinen blieben in großelterlicher Obhut daheim. Anschließend, im November, gingen dann die R.-Eltern in Urlaub nach Augustusburg/Erzgeb. und Karl-Marx-Stadt. Auch sie kamen einigermaßen erholt und ausgeruht zurück. Doch da war ja schon Ende November.
In der Adventszeit war unser Haus nur an den Wochenenden besetzt, so dass wir sogar einmal mit unseren beiden Großen den Berliner Weihnachtsmarkt besuchen konnten. Das war vielleicht eine tolle Sache! Sie hatten ja noch nie vorher Ähnliches erlebt. Uns so zogen sie mit strahlenden Gesichtern durch die ganze Herrlichkeit von Märchenfiguren, Karussels, Zuckerwatte, glasierten Äpfeln, frischen Waffeln und gebrannten-Mandeln. Diese Stände waren im Freien auf der Karl-Marx-Allee aufgebaut.
Das Schönste aber war das Innere der Sporthalle. Was gab es da alles zu sehen! Thüringer Glasbläser konnte man bei ihrer Arbeit beobachten und schnitzer aus dem Erzgebirge, Klöpplerinnen und junge Kunststudentinnen, die allerliebste Teddybären herstellten. Und erst die Bastelstraßen! Für die von Euch, die so etwas nicht kennen, sei schnell erklärt, daß sich da Kinder in aller Ruhe alle möglichen Sachen selbst basteln können: Plasteautos, Puppen, Stehlämpchen, Holzketten, Spanschachteln verzieren und Porzellan bemalen. Für das, was man gern herstellen möchte, zahlt man am Eingang den Materialpreis – sehr wenig – und dann kann’s losgehen. Überall sind erfahrene Leute da, die die Kinder beraten und ihnen helfen. Jedenfalls ist dies eine ausgezeichnete Möglichkeit für Kinder, ihren Eltern und Geschwistern zu Weihnachten für wenig Geld eine große Freude zu machen. –

Die Arbeit vor dem Weihnachtsfest brauch ich wohl nicht groß zu beschreiben, die kennt ja jeder selbst. Eine geraume Zeit nahm die Weihnachtsbäckerei ein, die vielen Christstollen, Pfefferkuchen und Plätzchen.
So kam schließlich Weihnachten heran. Herbert hatte am Heiligabend 2 Gottesdienste, so daß wir es vorzogen, wieder am ersten Feiertag früh zu bescheren. Diese Freude! Es ist einfach nicht möglich, das selige Staunen und den Jubel der beiden Großen wiederzugeben. Der Lichterbaum, die Pyramide, die bunten Geschenke – für Tobias war das alles noch unbegreiflich, und er tapste glücklich, seinen neuen Teddy im Arm, durch diese Wunderwelt. Friedemann und Christfried aber wußten nicht, wohin sie zuerst schauen sollten. Sie hatten sich – man höre und staune – brennend eine Puppenstube gewünscht. Und die stand nun da! Und Bilderbücher, ein Hühnerhof, Legosteine, Buntstifte, Tuschkästen und Bilderstempel – alles war vorhanden. Wonne über Wonne! Auch wir Erwachsenen hatten einen wirklich köstlichen Gabentisch (für die Bücher brauchen wir ein Extra-Regal!). Euch allen, die Ihr zu dieser handgreiflichen Weihnachtsfreude beigetragen habt, danken wir hiermit von ganzem Herzen!
Vor lauter Freude sind wir alle in den Garten gestürmt, haben uns in Positur gestellt und uns fotografieren lassen, Titel: „Glückliche Familie nach der Weihnachtsbescherung“. Eine Kostprobe davon legen wir Euch bei.

Nun hat sich inzwischen das Leben wieder „normalisiert“, das bedeutet, daß die Puppenstuben aussehen, wie von Räubern heimgesucht (es ist eben eine Männerwirtschaft!), ein Buntstift zerbrochen und ein Baustein spurlos verschwunden ist.
Zur Zeit spielen unsere Kinder immer wieder mit wachsender Begeisterung die Weihnachtsgeschichte. Jeder bekommt seine Rolle diktiert, sogar Opa und Oma haben die Aufgabe, Zacharias und Elisabeth zu sein! Vorgestern kam Friedemann herein, eine Decke umgehängt, eine Krone aufdem Kopf: „Ich bin ein heiliger Dreikönig!“
Christfried bockt jetzt oft und gern, aber er ist dabei so drollig, daß wir bei seinen Aussprüchen oft das Weite suchen, um nicht laut herauszulachen. Vor einiger Zeit wollte und wollte er sich nicht dazu bewegen lassen, das Kinderzimmer mit aufzuräumen. Er saß da, schaute ein Bilderbuch an und rührte keinen Finger, alles Bitten und Ermahnen half nichts. Ich kündigte ihm an, wenn er nicht sofort mithelfe, würde er tüchtig versohlt. Es fruchtete nichts. Im Gegenteil: er sang ein Lied, spielte mit Tobias und dachte nicht im Traume daran, mitzumachen. Da platzte mir der Kragen: „Du solltest lieber still sein und daran denken, was nachher auf dich wartet!“ Da sagte er ganz erstaunt: „Aber Mutti, bis dahin kann ich doch noch lustig sein!“ Wenn das kein Optimismus ist!

Tobias ist ein Hansdampf in allen Gassen, nichts ist vor ihm sicher, kein Stuhl und Tisch zu hoch. Gestern war ich in der Küche beim Essenkochen (wir haben nämlich seit 29. 12. das Haus wieder voll belegt), da ruft Friedemann mich ins Wohnzimmer: „Mutti, der Tobbi räumt deine Nähmaschine aus!“ Ich lasse alles stehen und liegen und bringe meine Nähmaschine in Sicherheit. Aber in dieser Minute war der Sausewind schon in die Küche gerannt und setzte die Essigflasche an den Mund … 20 Hände und Füße müßte man haben!
Insgesamt aber machen sie uns viel Freude, besonders Friedemann wird langsam recht vernünftig. Im Frühjahr sollen die beiden großen Buben dann in den Kindergarten gehen, von früh bis nach dem Mittagessen. Davon verspreche ich mir eine große Erleichterung für unsere Arbeit hier im Hause. Außerdem bekommen sie dort Vorschulunterricht, auf den dann der Unterricht der ersten Klasse aufgebaut wird.

Schluß für heute, Schluß für dieses Jahr mit der Schreiberei. Bitte, habt Geduld mit uns, wenn mal ein Brief nicht gleich beantwortet wird – es ist kein böser Wille!

Euch allen wünschen wir ein segensreiches, frohes und vor allem friedliches neues Jahr, jeden Tag die rechte Kraft und jeden Tag eine kleine Freude!

In herzlicher Verbundenheit
Eure Hannelore u. Herbert V.
mit den Kindern.

 

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