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Brief (Transkript)

Hermann S. aus Marbach an Jobst Dieter H. nach Eisenach am 19.10.1963

 

Hermann S. Den 19. Oktober 1963
7142 Marbach
[Straße und Hausnummer]


Lieber Herr H.,

nun befürchte ich doch sehr, daß mein letzter Brief, den ich anfangs September schrieb, nicht angekommen ist. Jedenfalls warte ich sehnlichst darauf, daß Sie mich von Ihren Wünschen unterrichten. Es wird ja sonst fast Weihnachten, bis ich ihnen endlich etwas schicken kann.
Hier in Marbach warten auf mich einige unruhige Tage und Wochen. Am 29. Oktober wird der Umzug in das neuerbaute Gemeindeznetrum sein, das innerhalb meiner Parochie errichtet ist. Damit verbunden ist eine neue Wohnung für den Vikar. Das sind natürlich große Möglichkeiten, die uns hier noch geboten sind.Aber trotz aller großartiger Gebäude, trotz aller finanziellen Möglichkeiten und Freizügigkeiten ist der Boden für das Evangelium keineswegs bereiter und empfänglicher. Es wird nun überhaupt erst das große Wagnis in dieser Neusiedlung beginnen, wie diese Menschen zu gewinnen und zu einer Gemeinde zu sammeln sind. Eine große Zahl von DDR Flüchtlingen ist mit darunter. Aber es ist keineswegs so, daß sie nun auf Grund ihrer Erlebnisse ein aktives Element in der Gemeinde darstellen würden. Trotz ihrer Abneigung gegen die DDR Regierung brachten sie in den seltensten Fällen eigene, positive Ansätze mit und wurden deshalb von der westlichen Konsumgesellschaft sehr stark aufgesogen. Sie fanden keine Zeit und Gelegenheit, eine eigene Position zu finden.
Ihre Enttäuschung über die großen Schwierigkeiten, die ihnen in der Bundesrepublik zunächst entgegentraten, ihr Mißtrauen gegen jede Art von Bevormundung und Autorität hat sie sehr verschlossen gemacht.
Und doch ist mir die Arbeit an solchen Menschen lieber, als bei denen, die seit Jahrzehnten ihre selbstgerechte Frömmigkeit pflegen und sich als die liebsten Kinder des lieben Gottes fühlen.
Am vergangenen Sonntag hatte ich die Gelegenheit in der Nachbarschaft einen tschechischen Vikar zu erleben, der zum Besuch in die Bundesrepublik gekommen ist. Es war einfach ermutigend, von ihm zu hören wie er als Christ in einem kommunistischen Staat leben kann und sich dort durchaus wohlfühlt. Die größte Überraschung ist es dabei für uns immer wieder, wenn wir feststellen müssen, daß der Kommunismus in keiner Weise ein einheitliches System ist, sondern in jedem Land seine eigene Prägung annimmt. Man gewinnt dabe den Eindruck, daß die pseudoreligiöse Ausformung des Kommunismus eine spezielle deutsche Eigenart ist. Ich glaube, ebenso wie bei uns der Antikommunismus unter christlichen Vorzeichen oft überhitzt wird, so wird der Kommunismus in der DDR durch seinen pseudoreligiösen Anspruch verschärft.
Ob nicht hier eine ganz spezielle christliche Verantwortung für uns offen liegt, daß wir daran mitarbeiten, daß dieser pseudoreligiöse Charakter auf beiden Seiten verschwindet und auf diese Weise ein Stück Menschlichkeit gewonnen wird.
Das sind nur ein paar lose Gedankensprünge, die sich beim Nachdenken des Gehörten aufdrängen. Aber vielleicht liegt hier doch ein möglicher Ansatz. – Nach der Regierungserklärung unseres neuen Kanzlers Erhard fühlt man sich dazu noch mehr gedrängt. Denn auch er konnte hinsichtlich der Teilung Deutschlands nur die offizielle Ideolgie verkünden, wobei er allerdings mit ein paar Formulierungen sehr vorsichtige Schritte nach vorne tat.
Hoffentlich erreicht Sie dieser Brief; teilen sie dann doch am besten schnell Ihre Wünsche mit – ohne ausführlichen Brief.
Mit herzlichen Grüßen Ihnen und Ihrer Frau

 

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