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Brief (Transkript)

Günter B. aus Essen an Helmut C. nach Ludwigslust am 19.05.1970

 

Günter B. 43 Essen-Kupferdreh, den 19.5.1970
[Straße und Hausnummer]



Lieber H e l m u t ,

es wird Zeit, daß ich von mir hören lasse, nachdem im persönlichen Bereich, das heißt in Deinem, wichtige Entscheidungen gefallen sind, und da andere Ereignisse bevorstehen, die uns alle angehen.
Zuerst zu Deiner kurzen „Vollzugsmeldung“ vom 24.4. und Deiner ausführlichen Schilderung von 6.5.1970: wenn auch Schweres, Schmerzliches und Bedrohliches zu überwinden waren, so ist doch Anlaß, Dich letzten Endes herzlich zu beglückwünschen! Das Positive überwiegt ohne Zweifel; die Operation ist gelungen, „alles fließt“ (wieder) und last, not least ist der histologische Befund in Ordnung. Junge, Junge, es waren aber auch einige scharfe Kurven auf dem Wege zum Ziel! Nun wünsche ich Dir eine Zeit der Schonung, der erfolgreichen allgemeinen Rekreation. Das gilt – wie Du es ja auch besonders herausgestellt hast – gewiß auch für Deine Frau. Möge es Euch gelingen, doch ein ruhiges Ferienplätzchen an der heimatlichen See oder im Grünen zu ergattern. Das ist jetzt wichtiger als der Ausfall der Leningrad-Reise, so sehr man ihn auch bedauern mag. Noch ist nicht aller Tage Abend!

Fein, daß Dir der Test gefallen hat. Und ob Dir der Schlitten gut zu Gesicht stehen würde! Natürlich kommt unsereiner aus mancherlei Gründen gut und gern auch mit einem Gefährt aus, das weitaus weniger aufwendig konzipiert ist. Eine Automatik wäre gerade in Deinem Fall allerdings sehr angebracht. Daß bei ziemlich weit entfernten punktuellen Zielen das Flugzeug das geeignetste Verkehrsmittel ist, hat sich mir in diesem Winter bestätigt, als ich ziemlich plötzlich nach München reisen mußte. Es war im Januar und ein Wetter, bei dem ein Christenmensch selbst einen Hundestammbaum am liebsten nach drinnen verlegen würde. Es hätte einen gegraust, daran zu denken, die rund 700 km mit einem noch so schönen Auto herunterzustochen oder selbst (und das zweimal) ca. 7½ Stunden im Zug zu sitzen – vom Zeitbedarf ganz abgesehen. Dagegen im Luftverkehr: Abflug kurz vor 7 Uhr in Düsseldorf mit einer Boeing Jet 737, sehr bald ein Sonnenaufgang wie auf einer Kitschpostkarte, dann oberhalb der „durchgehenden Wolkendecke über ganz Deutschland“ ein knallblauer Himmel mit strahlendem Sonnenschein, eine Tasse Kaffee, schon die scharf konturierte Alpenkette, Landung nach 50 Minuten, Fahrt in die Stadt, Frühstück in der City, Taxifahrt nach Trudering (wieder in der Nähe des Flughafens Riem), drei Stunden Konferenz, eine Werksbesichtigung, Mittagessen, Pkw-Fahrt zum Flughafen, warten, Rückflug gegen 16 Uhr (mit einer Turboprop, einer der wenigen letzten Propellermaschinen der Lufthansa), gegen 18 Uhr zu Hause (damit meine ich nicht etwa Düsseldorf, sondern meine Wohnung in Kupferdreh, einem Vorort im Südosten von Essen), am nächsten Tag nicht weit nach 7 Uhr wieder am Schreibtisch. Über die Kosten kann man auch nicht klagen, wenn man bedenkt, daß das reine Fahrgeld sich ungefähr mit dem der 1. Klasse eines Schnellzugs deckt, bei Benutzung der Bahn aber eine Übernachtung nicht zu umgehen gewesen und ein weiterer Arbeitstag verlorengegangen wäre.

„Meines Vaters Pferde“ kenne ich und erinnere mich gern daran. Dies Buch ist übrigens, es mag vor etwa 15 Jahren gewesen sein, ebenfalls verfilmt worden – mit Eva Bartok, Jürgens und Benrath.
Aber Doktor, sicher habe ich für Pferde eine Menge übrig! Weißt Du nicht mehr, daß ich als Adjutant von Dr. W. in unserem Sauhaufen von Marschbataillon in Frankreich gute 500 km auf dem Pferderücken zurückgelegt habe? Freilich hatte sich das aus den Umständen ergeben. Früher, in meinem jugendlich romantischen Idealismus hatte ich aber einmal Kavallerieoffizier werden wollen und dazu auch schon den Reiterschein erworben (entkleide ich jene Zeit von allem Beiwerk, so zeigt sich eine frische, gute Erinnerung an den Umgang mit den Rössern, den Stalldienst um 6 Uhr in der Früh, Striegel und Kardätsche, die aufregenden Gerüche, die Ausbildung in der Halle und herrliche Ritte durch den Stadtwald und am Baldeneysee).
Herr S. wird sich hoffentlich in der Tat mal hier sehen lassen. Er wäre endlich ein lebendiges Bindeglied und könnte so manches geschriebene Wort überflüssig machen oder verdeutlichen.
Greifen wir weiter zurück! Da ist Dein Brief vom 22. Februar. Das Päckchen war also wieder mal gut angekommen. Auf dem Gebiet haben wir aber wohl noch gar keinen Ausfall erlebt, nicht wahr?
Was die diversen Räte, Oberräte, Direktoren usw. angeht, so hast Du recht: hier gibt es durchaus Analogien, nur war mir das gar nicht so recht aufgefallen (oder es hatte mich nicht gewundert!).
Die Autolektüre ist sicher perdue, endgültig. Sowas Dummes!
DDR und Oder/Neiße.
Punkte, die hier in der Tat sehr umstritten sind, wie sie es gewiß auch bei Euch wären, wenn man mal den Deckel vom Topf nähme. An physische Auseinandersetzungen – größeren Stils – glaube ich nicht, doch wird es im politischen Kampf zwischen den verschiedensten Meinungen, wie sie sich in Parteiungen artikulieren, heiß hergehen. Zu diesen Gruppierungen zähle ich aber nicht nur – neben den großen Parteien – legaliter etwa ebenfalls die DKP, sondern, offenbar im Gegensatz zu Dir, mit demselben Recht auch die Vertriebenenverbände. (wer sollte in solchen Fragen wohl kompetenter sein?). Zerreißt man mal den Schleier von viele Jahre währender gezielter Verteufelung – auch von hier – so kommen im allgemeinen ganz vernünftige Leute zum Vorschein. Der „Gewaltverzicht“ – eigentlich ein reichlich ridiküler Begriff – ist bei den Vertriebenen viel älter als bei den anderen, die sich heute so viel darauf zugute halten – und die ich übrigens gewählt habe. Bei den Vertriebenen reicht er weit in die heißeste Zeit des kalten Krieges zurück und ist schon damals in einer Charta feierlich beschworen! Ihnen geht es auch nicht um Illusionen, sondern darum, was sonst tatsächlich im argen liegt, das Kind redlich beim Namen zu nennen, vornehmlich also um Fragen des Rechts – von dem auch ich meine, es sei unteilbar und gebe keine verschiedenen Editionen davon, eine für Sieger und eine etwa für ostpreußische Kinder und Omas. Gerade wir sollten das doch eigentlich wissen). Ob eine volksrechtliche Anerkennung der DDR Fortschritte für alle mit sich bringen würde, scheint mir leider zweifelhaft zu sein. Die DDR ist nicht genügend konsolidiert (Optimisten mögen sagen: noch nicht stark genug), um etwa die Mauer abzubrechen oder auch nur durchlässiger zu machen. Oder sehe ich das falsch? In jedem Fall würde das Trennende nicht zuletzt auch nach außen hin zunächst mal dick unterstrichen werden, während die meisten Menschen, hüben wie drüben, nach meiner Meinung den Wunsch haben, eines Tages wieder zusammenzukommen und in Frieden miteinander zu leben.
Bruno W. war wieder einmal hier, um unter anderem auch am Bierkränzchen in Langenberg am 9.Mai teilzunehmen. Die Tage waren in diesem und jenem Betracht recht anstrengend. Schöne Grüße von der Korona! Von meinem Haufen waren – zu meiner ehrlichen großen Freude – auf einmal zwei Figuren wieder da, die wir schon seit 25 Jahren unter der Erde gewähnt hatten!
Bei uns ist soweit alles in leidlicher Ordnung. Meiner Frau geht es allerdings immer noch nur comme ci comme ca, es scheint sich herauszuschälen, daß doch viel Nervosität im Spiel ist. Das ändert freilich nicht viel an der subjektiven Empfindung der Beschwernisse, die in Intervallen immer noch auftreten. Sicher werden wir noch einige Geduld haben müssen.
Ich hoffe gerade Dein Lob zu ernten, wenn ich Dir hiermit vermelde, daß ich an einem Erste-Hilfe-Kursus teilnehme. Es ist seit „jenen Tagen“ (und hochinteressanter Theorie in Berlin bei einem jüngeren Mitstreiter von Professor B.) doch vieles verschütt gegangen.
Außerdem habe ich alter Esel (indessen mit Vergnügen) begonnnen, drei Trimester Französisch an der hiesigen université populaire zu durchlaufen!
Schließlich möchte ich Dir nochmals alles Gute wünschen und bleibe auch im Namen der Meinen mit herzlichen Grüßen an Dich und Deine Frau

Dein Günter

P.S. Vielen Dank für die hübschen Briefmarken.

 

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