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Brief (Transkript)

Familie F. aus Salzkotten an Familie H. nach Leipzig am 11.08.1985

 

Salzkotten, am 11.8.1985

Liebe Frau, lieber Herr H.!

Sie werden auf den lange versprochenen Brief gewartet haben. Zwischenzeitlich habe ich Ihnen eine Ansichtskarte am 22.7. geschrieben. Auf einer deutschsprachigen Sudetenkarte habe ich den Ort Rochlitz, wo Sie Ihren Frühjahrsurlaub als „4 Rübezahle“ verbrachten, gefunden. Wir bereiten uns nun auf unsere Südostreise, die vom 8.-19.9. stattfindet, vor. Wir werden unseren Wagen in dieser Zeit auf einem Dauerparkplatz am Rasthaus Kassel abstellen. Der von Würzburg kommende Reisebus wird uns dort aufnehmen. Mit uns reisen noch 4 weitläufig Verwandte aus Coburg und Bayreuth. Wir waren gestern in Kassel und haben bei dieser Gelegenheit die Brüder Grimm – Ausstellung im Fridericianeum angesehen. Leider konnten wir nicht alles bewältigen. Von den 5 Brüdern Grimm ist auch noch der Maler, Zeichner und Graphiker Ludwig Grimm bedeutsam. Über dessen humorvollen und satirischen Bleistiftzeichnungen, die den Zeitgeist geißelten haben wir uns besonders gefreut.
Zum Fernsehen können wir nur soviel sagen, daß wir strenge Maßstäbe an das Dargebotene stellen. Werbesendungen sehen wir uns nicht an. Da man bei uns praktisch alles kaufen kann – wir haben uns geradezu zu einer Konsumgesellschaft degradiert – ist Werbung im Fernsehen für uns überflüssig. Wir müssen uns am Markt orientieren. Wir haben allein in der Kernstadt 5 Supermärkte, die gegenseitig konkurrieren. Wer etwas Extravagantes haben will, der muß schon nach Paderborn oder Bielefeld fahren. Sie werden schon festgestellt haben, daß die politischen Beiträge in den verschiedenen Programmen sehr unterschiedlich sind und oft nur die persönliche Meinung eines qualifizierten Redakteurs darstellen. Eine überregionale und politisch unabhängige Tageszeitung ist für mich immer eine wertvolle Ergänzung. Meine Frau entspannt sich nach der Tagesarbeit gern bei Unterhaltungssendungen. Der Rundfunk ist zur späten Abendstunde für meine Augen eine willkommene Entlastung. Von den früheren DDR-Schauspielern ist eigentlich nur dem Manfred Krug der große Sprung gelungen. Er ist ja sehr oft im Fernsehen zu sehen. Er beklagt ja, daß er so gut wir gar nicht in klassischen Rollen verwendet wird. In einem gewissen Milieu ist er jedoch sehr gut ausgelastet. Die Domröse, die ich früher sehr schätzte, verschwindet immer mehr im Fernsehen. Die beiden letzten Filme „Anna von 6 bis 6“ sowie „Randale“ waren Konzessionen an den hiesigen Zeitgeist. Noch schlimmer sieht es mit den Schriftstellern aus. Der Schriftsteller Erich Loest produziert nur über seine Vaterstadt und ist kaum bekannt. Die übrigen verschwinden sehr bald in der Versenkung, werden Lektoren oder Kritiker. Die Lyriker stehen in unserer technischen Zeit mit Sarah Kirsch an der Spitze. Vielleicht ist dies eine Hoffnung.
Die Wahlen an der Saar und hier im Lande haben auch bei mir Verwunderung erregt. Zweifelsohne wird das Saarland nach wie vor eine schwierige Position behalten. Mit einer veralteten Stahlindustrie kann man bei besten Willen keine Arbeitsplätze erhalten. Außerdem sind die Genossen Computer und Roboter nach wir vor auf dem Vormarsch. Und das kostet Arbeitsplätze. Das haben leider etwas spät die Gewerkschaften erkannt. Nachdem diesen die Mitglieder weglaufen, möchten sie gern die moderne Technologie bremsen. Arbeitslose gleich welcher Art zahlen je keine Beiträge. Wer Arbeit hat, solidarisiert sich nicht mit sozial Abgestiegenen. Wer Arbeit hat, versucht durch Überstunden seinen erworbenen Status zu halten oder gar zu steigern. In vielen Betrieben steht die 38,5 Std.-Woche auf dem Papier. Jeder ist sich selbst der Nächste. Unter diesem Motto marschiert mancher Arbeiter. Es ist ein sehr differenziertes Kapitel, das ich nicht ausweiten möchte. Auffallend ist das Auftreten der Betriebe aus der DDR bei Ausschreibungen von Arbeiten, die 20 – 40 % unter dem Höchstgebot liegen. Sie arbeiten in Nordhessen, Nordniedersachsen und im Raum München. Die Leipziger IMO ist im Kraftwerkbau besonders dort tätig. Ohne kapitalistischen Methoden geht es wohl nicht. Da im Süden mit viel Feinmechanik die Arbeitslosenquote sehr niedrig ist, hat eine regelrechte Nord – Südbewegung eingesetzt. Rau ist ein guter Landesvater und hat auch ein gewisses Charisma, was der CDU große Einbrüche gebracht hat, aber als künftiger Bundeskanzler kann ich ihn mir nicht vorstellen. Er hat eine gewisse Unbeweglichkeit. Den ewigen Streit unter den Landesministern hat er auch nicht beseitigen können. Ich bin gespann, ob er in den Ruhrgroßstädten, Dortmund hat 16 % Arbeitslose, erfolgreich sein wird. Die Arbeiter erwarten es.

Mit herzlichen Grüßen

Ihre H. + B. F.

 

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