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Brief (Transkript)

Heinz Rahe an seine Ehefrau am 28.01.1943 (3.2002.0985)

 

28. Januar 1943



Meine liebe Ursula!

An Deinem Geburtstag sollst Du doch zumindest einen bescheidenen Gruß haben. Du hast sicherlich durch den Wehrmachtsbericht erfahren, daß wir uns auf dem Rückzug befinden, und wirst hoffentlich nicht zu sehr in Sorge sein. Der Gedanke an Peter wird ja noch lange nachhaltig wirken, aber Du darfst Dich nicht zu sehr sorgen. Wenn wir alles in Gottes Hand legen, so tun wir wohl am besten daran. Daß es mir persönlich sehr gut geht, schrieb ich ja oft genug. Wir leben doch eigentlich in Saus und Braus. Wenn man der Sache etwas tiefer nachgeht, ist es so, daß alle Werte, die schon durch den Krieg entwertet oder höher bewertet wurden, nun eine neue Umwertung erfahren haben. Rauchwaren und Alkohol dürften sonst wohl die begehrtesten Güter für einen Landser sein. Jetzt sind sie sehr im Kurs gesunken, da jeder soviel davon besitzt, daß er gar nicht weiß, wo er damit bleiben soll. Das Einzige, was jetzt sehr hoch im Kurse steht, ist Sprit, außerdem natürlich ein intaktes Fahrzeug. Augenblicklich warte ich auch auf Sprit. Schon um 4 Uhr ist ein Stabsfeldwebel von mir abgefahren; noch jetzt – nach 5 Stunden – ist er nicht zurück. Hat er Panne mit seinem LKW? Oder hat er noch keinen Sprit erhalten? Wir wollen heute noch 70 km marschieren! Zum Glück ist es jetzt nachmittags schon bis gegen 16 Uhr hell; denn die Abende sind sehr dunkel. Man muß also die kostbaren Tage ausnutzen. Gewiß, wir haben es nicht eilig, denn alles geht geordnet zu; aber solch Warten ist nicht jedermanns Ding.
Gestern sind wir 17 km marschiert. Ich fuhr mit dem Sturmgeschütz vorweg, die übrigen Fahrzeuge hinterher. Die PKWs hatten wir im Schlepp, da wir sonst mit dem Sprit nicht auskamen. So kamen wir nachmittags in dies große Dorf oder kleine Städtchen. Ich meldete mich hier beim Divisions-Troßführer, bei dem ich erfuhr, daß durch Versehen unser – der für mich bestimmte – Sprit anderweitig verteilt war. Lange wartete ich auf eine Funkantwort auf unsere neue Anforderung. Schließlich gab ich es auf und wollte ins Quartier. Doch da hatte der Spieß alles in eine zugige, ungemütliche Schule gelegt. Sieh, da kommen dann wieder Konflikte, von denen ich schon mal schrieb. Soll ich bescheiden mich dort irgendwo niederlassen oder ein gutes Quartier verlangen? Wenn man als Vorgesetzter bescheiden ist, untergräbt man leicht seine eigene Autorität. Das wurde mir kürzlich erst klar. Unser Kradschützen-Zugführer hatte Defekt an seinem Kübel und mußte ihn sprengen. Das erste, was er rettete, waren die v. Racjek-Pfeile zum Auspfeilen des Marschweges. Er sagte: "Ich hätte mich sonst nie wieder beim Oberst blicken lassen dürfen". Kurz darauf saß er mit sehr viel Verpflegung, die erbeutet war, sowie zwei Kisten von mir, die außer Geschirr etwas Alkohol und andere eßbare sowie nützliche Privatsachen enthielten, fest. Für den Abtransport der Beute sorgte er, suchte sie mir allerdings zu verheimlichen. Meine Sachen sind verloren. Vor mir hatte er offenbar "keinen Dunst!" Gestern also verlangte ich sofort ein ordentliches Quartier, war sehr ungnädig, als es nicht klappte, und ließ den Spieß selbst noch einen langen Weg machen. Da wird er sicher "Knast" gehabt haben, aber er merkt sich, daß er für mich sorgen muß. Ein zweites Mal sitze ich gewiß nicht ohne Quartier. Heute morgen bin ich sehr froh, daß ich bei dem stundenlangen Warten nicht in der zugigen Schule sitzen muß. Vielleicht gibt es noch einen Mittelweg, aber einen solchen habe ich noch nicht gefunden. Ich selbst bin sonst mehr für Kameradschaftlichkeit, aber man zieht dabei den Kürzeren.
Was mich dieser Tage sehr bewegt, ist weniger unser Rückzug als die Lage Stalingrads. Fast drängt sich mir ein Vergleich zu Verdun auf. Die russische Propaganda – "Deutsche Soldaten, der Kaukasus wird Euer Grab sein!" – geht zweifellos nicht in Erfüllung. Was wird aber Stalingrad für uns bedeuten? Wir stehen in einer ernsten Krise, scheint mir. Die zweite Front, das heißt die amerikanische Hilfe, ist jetzt doch wohl sehr wirksam.
Mein Lieb, es ist ein herrlicher Geburtstag heute. Gleich wird Dir zu Ehren eine Flasche Sekt getrunken. Es hat heute alles wunderbar geklappt, so daß ich sogar gesungen habe, zur Feier des Tages das Lied von Treuenbrietzen und dem Sabinchen. Ich kenne natürlich nur die erste Strophe, wie es sich für einen guten Deutschen geziemt. Wir haben auch ein ganz famoses Quartier erwischt. Unsere Babuschka brachte uns sehr viel fette Milch, wie man sie selten trifft.
Doch nun will ich der Reihe nach erzählen, sofern es etwas zu berichten gibt: gegen 10 Uhr kam der von mir fortgeschickte Stabsfeldwebel und brachte 1,4 Kubik Sprit. Da konnten wir auftanken und gegen 12 Uhr rollten wir ab. Ich vorweg auf dem Sturmgeschütz. Es ging nach Westen, die Karte stimmte genau – ausnahmsweise. Ich verfolgte sie und hatte meine Freude daran. Gegen 14 Uhr, als wir über die weite russische Steppe fuhren, aß ich mit Euch zu Mittag. Mir war diese Landschaft auf einmal gar nicht mehr so trostlos, besonders als ich an einem geschützten Hang einer Balka das erste schüchterne Grün entdeckte. Die ersten Frühlingsboten! Das war wunderbar! Der Wind pfiff sehr kalt, sonst aber war es verhältnismäßig milde. Ich war ja auch gut eingepackt, da ich über die 'Kombination" noch den Fellmantel gezogen hatte. Zwischendurch sah ich Dich der Ruhe pflegen, und als wir hier ankamen, trank ich mit Euch Kaffee. Tatsächlich tat ich es nicht, sondern aß erst mal eine fantastische Dörrkohlsuppe, die wunderbar schmeckte. Dann stellte unsere sehr um unser Wohl besorgte Alte die schmackhafte Milch auf den Tisch, an der wir uns recht labten. Mein Versuch, den Cézanne zu lesen, schlug fehl, doch nachher, beim Sekt, wird das besorgt. Du siehst, ich habe Deinen Geburtstag sehr schön mitgefeiert. Er ist so harmonisch und friedlich, während der meine so bewegt war. Ob ich in drei Wochen auf gut Glück wohl auch die Geburt des kleinen Rahe-Sprößlings feiern soll und werde? Ich muß doch wohl eine Flasche Sekt dafür aufheben. Gerade eben gibt Keim, mein Sturmgeschützfahrer, mir eine Tasse Kaffee. Schon ist die Alte da und fragt "molokko?" – Deutsch: "Milch?" Da steht nun wieder ein Topf mit Milch bei mir und auf dem Kaffee schwimmen die Fettaugen. August sagt: "Dafür muß die Alte morgen auch ihr letztes Schwein hergeben!" Ich hatte nämlich gerade befohlen, daß morgen ein Schwein oder Rind geschlachtet wird. Bei unserer Alten würde ich das natürlich nicht dulden. Es sind auch saubere Leute. Die beiden niedlichen Kinder, die jetzt auf dem Ofen schlafen, sehen sehr hübsch aus. Die junge Mutter, deren Mann bei Moskau Soldat ist, scheint auch sehr reinlich zu sein. Also: ein Bombenquartier! Und das an Deinem Geburtstag! Du siehst, ich genieße Deinen Geburtstag in vollen Zügen. Heute nacht werde ich himmlisch schlafen, nicht so beengt wie in dem Kinderbett in der letzten Nacht oder wie auf dem Wanzenlager davor! Nur einen Floh habe ich noch. Ob auch er schon als Frühlingsbote betrachtet werden kann? Vorläufig pfeift draußen allerdings noch ein sehr eisiger Wind. Sag mal, geht es mir in dieser Zeit nicht immer noch blendend? Zuletzt feierten wir Deinen Geburtstag zusammen, als ich von Rumänien aus auf Urlaub war. Ich weiß jedoch nicht mehr sehr viel davon, nur daß Lotte die Rumäniengans braten sollte und nicht wollte. Das Jahr zuvor waren wir beide in Hamburg. Damals konnte ich Dir noch einiges für unser Eßservice besorgen. Weißt Du es noch? Es waren schöne Tage damals. Aber sonst verblaßt die Erinnerung etwas hinter den großen Elterngeburtstagen, die wir im Eilbecktal feierten. Könnte ich jetzt doch mal bei Euch sein! Jetzt sitzt Ihr am Abendbrotstisch, der sicherlich ärmer ist als der meine. Wir haben ja alles im Überfluß. Auf dem Marsch heute ernährte ich mich von Bonbons und Schokolade. –
Die beiden Flaschen Champagner waren wundervoll. Neben mir liegt Dein Bild sowie die Fotos aus dem Urlaub. Leider befinden sich die meisten Bilder in meinem Koffer. Also perdu!

 

 



Ansicht des Briefes

 

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