Nach Zeitraum suchen

von 
bis 
SUCHE ZEITRAUM
Bestandskatalog PDF

Brief (Transkript)

Heinz Rahe an seine Ehefrau am 28.11.1941 (3.2002.0985)

 

28.11.1941



Meine geliebte Ursula!

Dieser Tage kommt ja mal wieder recht viel Post an. Gestern abend brachte Wasti mir drei Päckchen und 2 Briefe, heute früh waren es l Brief, 2 Päckchen und l Paket mit Lebkuchen und Zucker. Ich glaube, jetzt muß ich aber wohl bald mal bremsen, denn daß Du mir Seife und sogar Zucker schickst, ist doch wohl nicht ganz richtig, wo Ihr das alles selbst so knapp habt. Was hast Du mir alles geschickt: Batterien Filme, Seife - und das viele Gebäck! Wenn dies einen Tag hier gelegen hat, ist es wieder ganz frisch. Die Lebkuchen habe ich für Sonntag aufgehoben. Das wird dann ein besonderer Festtag. Auch über Tante Lenes Reuter habe ich mich sehr gefreut. Hab Dank für all das Viele! Es war mir gerade, als wenn Weihnachten wäre. Gestern abend war ich bei den Leuten drüben, als Wasti mit der Post kam. Da habe ich eine Flasche Wein geöffnet, die letzte, die ich so lange schon auf dem Balkon verwahrte. Bei einem Glase Wein habe ich dann die Päckchen sorgsam geöffnet, die Knoten gelöst, Fäden zusammengerollt und vor allem gelesen! Damit Du nun wieder unterrichtet bist: es kam Brief 36-38 und P 16-19, 22 und 24.
Soeben lese ich noch mal Deine Briefe durch. Du wunderst Dich, daß Richard solch Gefallen findet an Trallmusik. Ich habe in Wasti ein getreues Ebenbild vor mir. Etwas anderes als Tanzmusik, allerdings mit Einschluß von Walzern, scheint er auch nicht zu kennen. Das darf man nicht so tragisch nehmen. Vielleicht sind mir auch vor 10 Jahren die Schlager mehr durch den Kopf gegangen als heute, wo ich gar nicht mehr weiß, was eigentlich zur Zeit modern ist. Ein Junge von 18-20 Jahren muß heute wohl so sein. Zu ihm gehört auch - das ist eine Zeiterscheinung, die wesentlich ernster zu nehmen ist -, daß er eine Freundin hat, die ihm Briefe schreibt; meist sind es mehr als eine, er muß ja die Auswahl haben. Zudem lernt er in jeder Stadt bzw. in jedem neuen Quartier eine andere kennen. Diese ist beglückt, wenn sie einen Freund hat. Anfangs ziert sie sich etwas, aber dann gibt sie ihm alles, schon allein um ihn zu behalten. Sobald er dann 22 Jahre alt ist, denkt er ernstlich ans Heiraten. Oftmals bleibt er an einer hängen und heiratet sie unfreiwillig, was ja durchaus keine Schande ist; denn jedem könnte es passieren, daß er mal "Pech" hat. Tritt das nicht ein, dann wählt man zwischen den verschiedenen Freundinnen und verlobt sich. Diese Verlobung verpflichtet zu nichts, aber berechtigt zu allem. Ich höre das ja doch bei unseren Leuten. Sie reden ja genug davon. Dieser Tage sagte mein Fahrer, er glaube nicht, daß seine Freundin ihm treu wäre. Da kam er zu dem Ergebnis, daß er dann die andere nehmen wolle. Solch eine Entscheidung fällt ziemlich rasch. Er wollte nun noch einen Kameraden überreden, seine Freundin auf die Probe zu stellen. Die Methode, die er anwenden wollte, entsprach ganz dem, was man in Kinos zu sehen gewohnt ist bzw. was in den so gern gelesenen 25 Pfg.-Romanen wohl oft genug dargestellt wird. Daraus spricht eine ungeheure Unreife und Jungshaftigkeit, daß man doch bedenklich gestimmt wird, wenn sich darauf u.U. eine Frühehe aufbaut. Ich befürchte, daß in den letzten Jahren, vor allem infolge des Krieges, die Ehe sehr an Ansehen verloren hat und teilweise mehr als interessantes Spiel aufgefaßt wird, über dessen Ende nicht weiter nachgedacht wird. Es hat keinen Zweck, da groß entrüstet zu sein. Was Du von Richard schreibst, ist lediglich eine Sanktionierung des Tatbestandes, der, vielleicht nicht so sichtbar, aber in praxi ebenso eindeutig, seit Weltkriegsende fast Allgemeinerscheinung geworden ist. Die Wandlung der letzten Jahre ist also weniger in einer Wandlung der sittlichen Zustände zu sehen als darin, daß diesen allmählich der "Makel" genommen wird, der ihnen bisher offiziell anhaftete. Es ist vielleicht Zufall, daß ich heute wieder einige praktische Beispiele vor Augen geführt bekomme: Nach dem Abendessen verschwand Wastl. Jetzt ist es bald Mitternacht, aber er ist noch nicht zurückgekehrt. Ich glaube, nachdem er mir kürzlich ein Foto zeigte und er auch sonst kein Hehl aus seiner Haltung zu machen pflegt - ich glaube, sein Verhalten läßt keinen Zweifel zu. Gestern waren seine beiden Fahrer unterwegs, von denen der 21Jährige verlobt ist. Was sie machen bzw. beabsichtigen, darüber sprechen sich ihre Kameraden unmißverständlich aus. Während ich Dir schrieb, kam vorhin mein Fahrer Hartmann zu mir, um Zeitungen zu holen. Schließlich stellte sich heraus, daß er die Hamburger Illustrierte suchte, in denen Mädels abgebildet sind. Einer von ihnen will er schreiben. Neuerdings zweifelt er an seiner "Liebe" zu seiner Freundin, mit der er seit 2 1/2 Jahren festen Verkehr hat. Eine andere schreibt nämlich schönere Briefe. Jetzt sprach er sehr abfällig von seiner Freundin, die Stimmung ist also plötzlich umgeschlagen. Er selbst ist 22 Jahre, denkt natürlich auch daran, sich seine zukünftige Frau zu suchen. So findet man, einerlei ob Offizier, Ladenjüngling, Fabrikant oder Arbeiter, bei allen Vieren letzten Endes die gleiche Haltung. Als Hartmann von "Liebe" anfing, da sagte ich ihm, daß ich dies Wort nicht ausstehen könne. Er weiß augenblicklich nicht, zu welcher Freundin seine "Liebe" größer ist. Du kannst Dir denken, daß ich mich gern von dieser Art Liebe distanziere und lieber im Ausdruck nüchterner, aber dadurch vielleicht nicht nur ehrlicher, sondern auch herzlicher bin. Mein Lieb, wie froh bin ich, daß ich nicht so eine "Freundin" geheiratet habe und unser Verhältnis vor der Ehe auf anderer Grundlage basierte! Es ist sicherlich nicht schön, daß ich Dir alles dies geschrieben habe; ich weiß auch gar nicht, warum ich das tat. Doch Dein Brief hat mich dazu angeregt. Also sei nicht böse, denn ich glaube, daß Du dergleichen nicht', gern hörst.
Gestern nachmittag fuhr ich mit Wasti in die Stadt zum Friseur und anschließend zum Baden. Bei solchen Gelegenheiten merkt man immer, daß Wasti noch ein halber Junge ist. Das ist oftmals ganz amüsant. Diesmal ärgerte ich mich anfangs aber sehr über ihn. Er ist insofern ein guter Ostmärker, daß er ebenso wie sein Fahrer sehr unzuverlässig ist. Er ist von einer Unbekümmertheit, die ihresgleichen suchen kann. Das wird auch immer deutlich bei den Organisierfahrten. Er sorgt nie dafür, daß etwas besorgt wird. Dabei ist er aber ein großer Abnehmer. Er ist auch dadurch ein echter Ostmärker, daß er bezaubernd liebenswürdig und charmant sein kann. Nur mit der Wahrheit hat er es nicht so ganz genau, oder richtiger mit der Ehrlichkeit. Auch dadurch wurde ich neulich an Richard erinnert, als W. nach Hause einen Brief und eine Karte zugleich schrieb, aber verschieden datierte. Er hatte ein schlechtes; Gewissen, daß er so lange nicht geschrieben hatte, weil er aushäusig gewesen war. Nun suchte er das durch verschiedene Daten zu vertuschen,Doch was erzähle ich Dir das alles? Soeben kam W. zurück und erzählte, daß Assistent Kloock, der nach Deutschland fliegen wollte, erst morgen fliegt, da es gestern und heute sehr neblig war. So kann dieser Brief noch mitgehen. Heute sind deutsche Truppen in Rostow eingedrungen. Meine Division liegt auch davor. Auch bei Moskau gab es heute sehr erfreuliche Fortschritte. Andererseits ist bei uns der russ. Widerstand sehr groß. Teilweise sind die Gegenangriffe ganz ungeheuer schwer. Das hört man immer wieder.
Meine Werkstattbesuche waren bisher völlig erfolglos. Ich muß wohl versuchen, einen anderen Wagen zu bekommen. Doch das wird schwer halten. Dabei ist der ganze Schaden nur durch drei Dosen Kaviar entstanden!
Mein Lieb, sei nicht böse, wenn Du hier manches Unschöne gelesen hast. Ich grüße Dich von ganzem Herzen!!

 

 



Ansicht des Briefes

 

Briefe aus diesem Konvolut:
top