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Brief (Transkript)

Heinz Rahe an seine Ehefrau am 29.10.1941 (3.2002.0985)

 

[den 29.10.41



Meine geliebte Ursula!

Soeben höre ich, daß morgen einer nach Berlin fliegt. Er kann so sehr schön die Briefe mitnehmen und ich bin froh, wenn Du mal ganz frische Post bekommst. Hoffentlich wird etwas daraus! Soeben lese ich etwas in der Zeitung, was mir sehr, sehr leid tut. Die deutsche Schrift soll abgeschafft werden und in Zukunft nur noch die lateinische gelten. Es war mir in letzter Zeit schon aufgefallen, daß einige große Berliner Zeitungen wie die D.A.Z. und die Börsenzeitung jetzt ihre Zeitungen nur noch im lateinischen Druck erscheinen lassen. Das wunderte mich und ich knüpfte daran schon meine Befürchtungen. Jetzt finde ich sie durch einen Zeitungsartikel voll bestätigt. Du- glaubst nicht, wie sehr mir das leid tut! Da muß ich also in Zukunft meinen Namen und alles, was ich zu Papier bringe, in der mir fremd anmutenden, wenig geläufigen lateinischen Schrift schreiben. Am meisten vielleicht bedauere ich, daß dann auch der deutsche Druck verschwinden wird. Die schöne Rudolf-Koch-Schrift wird altmodisch werden und von der heranwachsenden Jugend nicht mehr verstanden werden. Mir ist die lateinische Schrift im Druck immer häßlich vorgekommen, und ich war stolz darauf, daß wir Deutsche die uns gemäße Schrift hatten. In Zukunft werden also die Bücher, die wir jetzt in deutschem Druck besitzen, von der Jugend nur mit Mühe gelesen werden können. Ich fand in der Zeitung keine Begründung für diese Neuregelung, empfinde sie nur als sehr schmerzlich, denn ich empfinde, daß da etwas aufgegeben und beseitigt wird, was mir bisher als ein nationaler Besitz sehr wertvoll gewesen ist.
Gestern abend habe ich noch ein wenig gelesen und bin dann ins Bett gestiegen. Den Brief an Dich hatte ich leider schon verschlossen; denn in einem Punkte hatte ich mich da nicht ganz richtig ausgesprochen. Ich sagte, daß ich Dich in meine "Gedankenwelt" einweise. Das klingt sehr hochtrabend und ist nicht so gemeint. Ich wollte eher sagen, daß es mir ein Bedürfnis ist, das, was ich denke und was mich bewegt, Dir mitzuteilen, da ich weiß, daß ich bei Dir das rechte Verständnis finde, das ich zumeist in meiner Umgebung nicht voraussetzen kann.- Du wirst es selbst ja gemerkt haben, daß ich stets dann, wenn ich etwas Besonderes erlebt habe oder mich etwas bedrückte, Dir einen recht langen Brief geschickt habe. So geht es mir also genau wie Dir, daß ich mit allem, was mich zutiefst berührt, zu Dir kommen muß.
Gestern las ich bei Bismarck über seine Schwierigkeiten während des Feldzuges 1870. Das war mir recht interessant. Während eines - Krieges gibt es ja stets eine militärische und eine politische Führung; die erstere liegt in Händen des Generalstabes, die zweite lag bei Bismarck. 1866 hatte die politische Führung den Ausschlag gegeben, als es sich um die Besetzung Wiens und die Fortführung des Krieges handelte. Bismarck setzte sich durch dank seiner überlegenen politischen Einsicht. 1870 schaltete das Militär ihn bewußt aus, sehr zum Schaden der Kriegsführung. Als es um die Belagerung und Beschießung von Paris ging, waren englisch-weibliche Einflüsse im Generalstab maßgebend; Humanität und dergl. Schlagworte beherrschten die militärische Kriegführung so sehr, daß Bismarck ernstlich sein politisches Ziel der deutschen Einigung bedroht sah. 1914/18 war die militärische Führung im allgemeinen zielbewußt und gut, die politische versagte völlig. Sie verstand es weder, diplomatische Beziehungen zu den wenigen Neutralen zu festigen noch die militärische Kriegführung den politischen Kriegszielen unterzuordnen. Dazu gehörte auch, daß sie rechtzeitig sich um einen Frieden bemühte, der noch tragbar gewesen wäre. 1939/41 ist die militärische Führung ausgezeichnet. Trotzdem hat sie nicht den Ausschlag zu geben, sondern sie ist nur ein Organ in der Hand der politischen Führung. Deren anderes Werkzeug ist die Diplomatie, die uns in den Pausen zwischen den Feldzügen sehr große Erfolge gebracht hat. So wird heute die militärische Führung nicht zum ausschlaggebenden Faktor, sondern sie ist ein Werkzeug zur Erreichung eines politischen Zieles. Wie stark jetzt bei uns im Kriege der politische Wille dominiert, sieht man deutlich in der Behandlung der Gefangenen wie in der Verwaltung der unterworfenen Gebiete und in vielem anderen. So möchte ich sagen, daß heute der Idealzustand erreicht ist, den Bismarck 1866 sich unter harten Kämpfen errungen hat und auf den er 1870 verzichten mußte.
Noch eine zweite sehr wertvolle Bemerkung fand ich bei Bismarck: als er von der Notwendigkeit einer Annexion Hannovers spricht, betont er, daß ein Staatsmann eine große Verantwortlichkeit auf sich nimmt, wenn er Gelegenheiten ungenutzt vorübergehen läßt, die einen Gefahrenherd ein für alle mal beseitigen könnten. Das geschah, als das Bindeglied zwischen West und Ost in Preußen einverleibt wurde durch die Erwerbung Hannovers. Sobald nach einem Krieg die staatlichen Verhältnisse sich erst einmal konsolidiert haben, kann solche Gelegenheit u.U. für alle Zeiten verpaßt sein. Solch eine Gelegenheit war gegeben nach der Niederwerfung Polens 1939. Wir haben sie recht genutzt und für dauernd die Hand auf Polen gelegt. Eine noch ungleich größere Gelegenheit ergibt sich heute im weiten Osten. Daß wir auch diese Gelegenheit uns zunutze machen werden, zeigt die Einverleibung Galiziens. Ich hoffe, daß wir uns nicht scheuen werden, ganz Ostpolen und die baltischen Länder in irgend einer Form in den Verband des Reiches einzufügen. Jetzt sind die Verhältnisse im Osten einmal im Fluß. Sobald sich hier erst nationale Staaten, etwa Ukraine, Weißrußland, Rußland und Georgien gebildet haben, wird es schwierig sein, da noch eine Korrektur zu unseren Gunsten und deren Nachteil vorzunehmen. Du magst Dich vielleicht wundern, liebe Frau, daß ich jetzt so starken Anteil an diesen Fragen nehme. Du wirst auch gewiß einen Umschwung und einen Gegensatz zu meinen ersten Briefen aus diesem Feldzug feststellen können. Das ist gewiß der Fall. Doch damals ahnte ich noch nicht, welch' eine Mißwirtschaft die Sowjets gebracht hatten. Außerdem sah ich in diesem Feldzug eher ein Verhängnis als eine verheißungsvolle Möglichkeit zu großen neuen Aufgaben. Wenn man soviel Zeit hat wie ich als V.O., da macht man sich natürlich viele Gedanken über den Sinn dieses Feldzuges und die Aussichten, die seine Opfer vielleicht rechtfertigen. Die einzige Landkarte, die ich besitze, zeigt den osteuropäischen Raum vom Gouvernement bis zum Ural. Da versinkt Mitteleuropa ein wenig in unserem Denken und täglich taucht bei mir die Frage auf, wie weit wir noch marschieren müssen und was wir aus diesem endlosen Raum machen werden. Mariupol liegt am Ostausgang der Ukraine - es liegt aber auch auf halbem Wege bis. Baku. Ich kann mir ja kaum vorstellen, daß wir noch vor dem Winter den Kaukasus erreichen werden. Dafür sind die Wegeverhältnisse zu schlecht. Wir liegen ja jetzt schon über 200 km von der nächsten Eisenbahnstation entfernt, die für unseren Nachschub an Munition und Sprit so sehr wichtig ist. Von Dnjepropetrowsk bis hierher ist doch ein weiter Weg auf den grundlosen Straßen. Zudem sind die Nächte immer länger, und bei Nacht zu fahren, ist ein Selbstmordunternehmen. Nun denke ich, daß morgen Adele auf Reisen geht. Vielleicht können wir dann in 6 - 8 Tagen den Sprung nach R. unternehmen. Zur Zeit ist allerdings der Russe recht lebhaft mit seiner Lufttätigkeit. Er merkt doch wohl, daß es ihm hier an die Gurgel gehen soll. Rostow ist die einzige Verbindung zwischen Rußland und dem Kaukasus. Daher hat es für uns wie für die Russen eine ganz besondere Bedeutung. Übrigens bin ich jetzt wieder aus der gedrückten Stimmung heraus, in der ich mich vor einigen Tagen befand. Sie hatte ihre Ursache in der erzwungenen Ruhe. Da sah man den Winter immer näher kommen und war doch zur Untätigkeit verdammt. Außerdem ärgerte mich die Haltung der beiden Kameraden, ihr teilweise derbes, primitives Wesen und ihr Mangel an guten Formen. Du" weißt, daß ich beides nicht sehr schätze. Daher war ich tagelang recht unzufrieden. Jetzt bringt die Aussicht auf den Fortgang der Operationen bessere Stimmung.
Inzwischen bin ich schon wieder mal im Kino gewesen, und zwar zu dem Film "Schiller", der Schillers Zeit auf der Akademie behandelt. Ich muß schon sagen, daß er mich stark beeindruckt hat. Er war ausgezeichnet gespielt, die Aufnahmen besonders von der Barockarchitektur ganz hervorragend und das Thema an sich ja schon sehr interessant. Wenn wir noch länger hier bleiben, werde ich mich wohl allmählich zum Kinogänger entwickeln Als wir wieder aus dem Kino ins Freie traten, mußten wir über große Pfützen hinweg. Inzwischen hatte es also stark geregnet. Das ist nicht nur für die Feldpost von Nachteil, obwohl natürlich diese erstmal wieder rettungslos festsitzt. Du kannst es Dir ja gar nicht vorstellen, welch nachteiligen Einfluß ein einziger Regenschauer hat. Es gibt ja keine festen Straßen im europäischen Sinne hier. Da kommt alles ganz auf die Witterung an. Bisher haben wir ja ganz leidlich gutes Wetter gehabt. Und trotzdem! - Die Straßen waren teilweise sehr schlecht und schlechter!
So, mein Lieb, ich bin am Ende! An diesen nahezu 8 Seiten hast Du ja auch erstmal ein Weilchen zu lesen.
Sie werden sicherlich für einige Zeit die neueste und letzte Post für Dich sein. Wie Du ja gehört hast, sind die Straßen sehr schlecht. Da vergeht also wohl schon eine kleine Ewigkeit, bis die Feldpost glücklich bis Dnjepropetrowsk gelangt ist. Und von da ab dauert es auch recht lange. Bisher habe ich sie entweder bei der Luftwaffe abgegeben oder beim Chef des Stabes, mit dessen Dienstpost sie zur Heeresgruppe und von dort nach Deutschland ging. Aber dieser letzte Weg ist seit einiger Zeit verboten, ganz abgesehen davon, daß bei dem häufigen Nebel und dem für einen Storch ungünstigen Wetter die Kurierflüge zur Heeres-Gruppe immer seltener geworden sind. Die Luftwaffe gab sie wohl einer JU 52 mit. Aber ich glaube, auch dieser Weg war nicht immer glücklich, da die JU selten geflogen ist. So mag wohl oftmals die Post dort festgelegen haben, wenn sie nicht doch einfach mit der Feldpost abgewandert ist.Mir persönlich geht es gut. Wenn ich schon klagen wollte, das wäre ja auch ein Unrecht! Trotzdem würde ich natürlich gern diesem Lande den Rücken kehren, wenn ich es könnte! Es ist ja immerhin möglich, daß unsere Division nach Erreichung eines bestimmten Abschnitts nach Deutschland verladen wird. Doch zunächst muß dann erstmal die Eisenbahn wieder hergestellt sein. So muß man also Geduld haben und abwarten.Daß die Paketsperre aufgehoben ist, habe ich wohl zur Genüge geschrieben? Nun leb wohl, mein Lieb! Ich grüße Dich von ganzem Herzen. Daß ich Dich herzlich lieb habe und so gern bei Dir wäre, weißt Du! Recht innigen Gruß!
Dein Heinz

 

 



Ansicht des Briefes

 

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