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Brief (Transkript)

Heinz Rahe an seine Ehefrau am 28.10.1941 (3.2002.0985)

 

28.10.41


Meine geliebte Ursula!

Nachdem wir zu dritt die Gans nicht ganz bewältigt, aber doch ihr so zu Leibe gerückt sind, daß nur noch einige Leckerbissen für morgen früh übrig geblieben sind, will ich noch einige Zeilen an Dich richten. Die Gans nebst einer Ente, 2 Hühnern und fast 200 Eiern haben gestern unsere Leute besorgt. Sie nehmen auf diese Fahrten Tabak, Zigaretten und vielleicht auch Zigarren mit, die sie dann in Zahlung geben. Da Rauchwaren auch bei den Russen sehr begehrte Artikel sind, finden sie meist die richtigen Abnehmer. Daneben geben wir für Geflügel auch wohl mal eine Mark oder zwei in Zahlung. Aber zumeist ist der Bevölkerung an Geld nicht viel gelegen. Natürlich kommt es dabei ganz auf das Geschick des Organisierenden an, ob sich solch Fang lohnt oder nicht. Mein Kradfahrer, der sonst nicht gerade der Schlaueste ist, versteht sich darauf sehr gut. Dank dieser seiner fast einzigen Tätigkeit konnten wir also heute abend eine Gans essen. Strube hat sie zu einer Frau gebracht, die sie gerupft, ausgenommen und gebacken hat. Sie schmeckte heute ausgezeichnet. Ich habe sie dann zerlegt und verteilt, doch es war so reichlich Fleisch da, daß wir es nicht ganz bezwingen konnten. Dazu aßen wir einige Bratkartoffeln und etwas Brot. Ja, nun magst Du vielleicht denken, daß es uns im Grunde doch sehr gut geht! Relativ ja, aber trotzdem würde ich sagen; man würde auf alles das ja so gerne verzichten, wenn man dafür nicht in diesem Lauseland zu sein brauchte. Außerdem schmeckt es doch nicht wie zu Hause. Dafür fehlt auch die Umgebung. Ich sagte gestern schon zu unserem Neubauer, daß doch sehr viel auch von dem Drum und Dran abhänge. Mir geht es leider so, daß zum Gänsebraten eine gewisse Feierlichkeit und Ruhe gehört, sonst schmeckt er nur halb so gut. Die beiden Kameraden haben dafür offenbar nur wenig Verständnis. Während sie sonst die Ruhe weg haben, geht es ihnen beim Essen nie schnell genug. Auch sonst -- na, Du kannst Dir vorstellen, was mir dabei nicht so sehr benagt und was mich stört. Ich brauche nur an Dein Elternhaus zu denken! Wenn da des Sonntags ein Braten auf den Tisch kommt, so wird geschnitten, dann wird herumgereicht, alles ohne Hast und mit einer selbstverständlichen Feierlichkeit. Das ist dann doch etwas ganz anderes! Auch schon das vorher und nachher gesprochene Tischgebet gibt, abgesehen von seinem eigentlichen Sinn, dem Essen einen feierlichen Rahmen, den man doch sehr vermißt bei unseren recht formlosen Essereien. Es kommt ja selten vor, daß wir mal gemeinsam das Essen beenden oder uns dabei vernünftig unterhalten. Sobald die beiden anderen fertig sind, da schnappen sie sich eine Zeitung oder legen sich hin. Das war so sehr viel netter, als Dittwald und Kneißler noch hier waren. So habe ich heute auch auf die Flasche Wein verzichtet, die ich noch kalt gestellt hatte, da ich wußte, daß der Wein mir dazu doch nicht recht schmecken würde. Genau so haben wir früher wohl auch gelebt, als die anderen noch da waren, nur der Ton war anders. Vor einigen Tagen kamen wir auf Offz.-Veranstaltungen zu sprechen. Über die sinnlosen Saufabende waren wir uns einig. Doch ebenso wurden von den beiden Kameraden Offz.-Tanzfeste verurteilt wegen der Pflichttänze, der steifen Formen, angefangen bei Handkuß und "gnädiges Fräulein" bis zu den Gefahren, die ein beobachteter und daher verpflichtender Kuß mit sich bringt. Ich habe ja nun bisher nur unser schönes Calber Tanzfest mitgemacht und kann daher nicht darüber ein abschließendes Urteil abgeben. Aber da die beiden, das Tanzen auf Tanzdielen vorziehen und am liebsten gleich am ersten Abend ein Mädel mindestens duzen, wenn nicht mehr, kann ich mir denken, daß der einem gesellschaftlichen Zwang unterworfene Umgang mit Damen ihnen wenig zusagt, wohl weil er naturgemäß eine gewisse Schranke aufrichtet bzw. bestehen läßt. Auch in der Frage der Behandlung unserer Leute sind wir uns nicht ganz einig. Die beiden nehmen sehr viel Rücksicht auf ihre Leute, indem sie lieber aus ihren Trinkbechern trinken und auf Zeitungen essen, um kein Geschirr schmutzig zu machen, während ich mir decken lasse und auch sonst meine Leute zu kleinen Diensten heranziehe. Wenn ich bedenke, daß mein Kradmelder seit 14 Tagen nicht ein einziges Mal zu fahren brauchte, dann ist es wohl nicht zuviel verlangt, wenn er die Stelle eines Offz.-Burschen einnimmt. Er hat ja sonst gar nichts zu tun. Dabei kommen die Jungs ja doch höchstens auf schlechte Gedanken. Wenn Neubauers Kradfahrer eine ganze Nacht sich herumtreibt, dann stört ihn das nicht. Er läßt ihm viel Freiheit und der Fahrer nimmt sie sich auch ohne Erlaubnis. N. lacht höchstens darüber. Gestern gab mir mein Fahrer seine "Bibel", nach der er sich richtet, ein Buch, das ein Mediziner geschrieben hat. Dies liest N. jetzt voll Interesse. So etwas kann mich innerlich sehr erbosen, wenn ein junger Bursche es nicht fertig bringt, ein gutes Buch zu lesen, statt dessen aber 25 Pfg.-Romane eifrig verschlingt. Dafür hat er nun sein Abitur gemacht und wird aktiver Offizier! Deshalb kann ich mich mit ihm auch kaum mal vernünftig unterhalten, obwohl er sicher nicht dumm ist. Da ist der Danziger schon anders. Er hat wenigstens eigene Ansichten und nicht nur charmante Flausen im Kopf.
Gestern abend waren "Wastl", wie wir Neubauer nennen, und ich zusammen im Kino. Es gab den Film "Feinde", der das Flüchtlingserlebnis der Volksdeutschen in Polen behandelt. Der Film war enorm spannend, ja, mehr als das. Er peitschte dermaßen die Nerven auf, daß ich hinterher ganz erregt war. Ich habe selten einen Film gesehen, der so sehr die Nerven anspannte und mich fesselte. Es war ein ganz ausgezeichneter Film, wenngleich ich ihn Dir nicht empfehlen möchte. Du schläfst bestimmt nicht gut danach.
Heute habe ich wieder in Bismarcks "Gedanken und Erinnerungen" gelesen, die ich mir von unserem Danziger geliehen habe. Du weißt, daß ich geschichtliche Sachen gern lese. Ich habe zwar sehr vieles bei Bismarck schon gelesen, aber teilweise ist es in Vergessenheit geraten, und im übrigen ist es so interessant, daß ich sehr gern darin lese. Wie Du wohl meinen letzten Briefen entnehmen konntest, sind meine Interessen an Fragen des Volkstums, der Wirtschaft und Raumpolitik durch das Erlebnis dieses Feldzuges sehr gestiegen und haben zahlreiche neue Anregungen erfahren. So lese ich denn Bismarcks Gedanken über die politischen Ereignisse, die zum Zweiten Reich führten, mit besonderer Aufmerksamkeit, gerade jetzt, wo wir doch einer Neugestaltung unseres Reiches mit ungeahnten Möglichkeiten entgegensehen, bzw. erleben, wie sie jetzt schon während des Krieges sich in Einzelzügen ausprägt. Gestern las ich in einem Parteischulungsbrief über Schlesien und war erstaunt, auf einer Karte feststellen zu können, daß Schlesien jetzt im Herzen Deutschlands gelegen ist. Dadurch wird einem erst deutlich, wie ungeheuer sich der Raum nach dem Osten geweitet hat. Daß sich diese frohen Hoffnungen zugleich mischen mit der Sorge um die Zukunft unserer Kirche, kannst Du Dir denken.
Mein Lieb! Ich schreibe Dir wieder solch endlose Epistel über Dinge und Gedanken, die Dich vielleicht nur wenig interessieren. Gestern las N. mir einen Satz aus einem Briefe vor, den ein Mädel ihm schrieb: "Du bist mein süßer, kleiner, dicker, herziger Fritzerl!" So ähnlich lautete er. Da wurde mir mal wieder deutlich, wie recht nüchtern doch letzten Endes meine Briefe, oder auch - jedenfalls daran gemessen - unser gegenseitiger Briefverkehr ist. Und doch! Was erfährt das Mädel wohl von ihrem "süßen Fritzerl" außer einigen, natürlich für beide unverbindlichen Schmusereien? Ich versuche immer, Dich auch in meine Gedankenwelt einzuführen, weil ich hoffe, daß wir beide dadurch am besten miteinander verbunden bleiben, vielmehr als wenn die Briefe von allen möglichen Beteuerungen gefüllt wären. Weißt Du, das Wort Liebe ist heute so eine abgegriffene Münze, daß ich sie für uns nicht gebrauchen möchte, jedenfalls nicht in der Form geläufiger Redensarten. Umso lieber wäre ich mal bei Dir, um alles Gesehene und Gehörte zu vergessen und alles Unwahre und Unreine hinter mir zu lassen, als hätte ich nie davon erfahren.
Dieser Tage wurde wiederholt im Wehrmachtsbericht Hbg. genannt. Vorläufig weiß ich Dich in Geslau noch in sicherer Hut. Doch wenn Du erst mal in Hbg. bist, fürchte ich, daß Du Dich nicht so rasch wieder losreißen kannst. Dann beginnt für mich die Sorge, ganz abgesehen davon, wie wenig für Dich und Deine Gesundheit der Hamburger Aufenthalt zuträglich ist. Hoffentlich bekomme ich bald genaue Nachrichten von Dir. Heute früh fuhr ich mit Wastl in die Stadt. Wir gingen in eine Fabrik, die vom Militär wieder in Betrieb genommen ist. und holten uns eine Schaf-Fellweste. Sie ist zwar ganz einfach und nicht so hübsch wie die rumänischen, aber im Winter wird gerade sie gute Dienste tun können. Das ist ja die Hauptsache. Auch ein Paar Fausthandschuhe gab es dazu. Einen Tropfen Wermut bekam ich leider gleich in meinen Wein, als mein Fahrer mir sagte, daß das die geeignete Brutstätte für Läuse sei. Dieser Gedanke war mir nicht so sehr sympathisch. Unterwegs sahen wir einen freien Platz, auf dem heute nacht mehrere Bomben eingeschlagen waren. Die Geleise der Straßenbahn standen in die Luft, die Einschläge waren nicht schlecht gewesen. Allmählich, je mehr das friedliche Leben hier wieder in Gang kommt, desto mehr findet man sich auch mit dieser eintönigen Stadt ab und weiß ihr sogar gewisse Vorzüge und Reize abzugewinnen, wenn man an die elenden Dörfer auf dem Lande denkt. Doch ich denke, daß unser Aufenthalt in einigen Tagen doch wohl beendet sein wird, sobald wir erst einen großen Sprung machen können.
Adele ist noch immer nicht an ihrem Ziel; vielleicht wird sie es am 30.10. - 1.11. erreichen. Ihre Programmverschiebung hat natürlich tiefere Ursachen gehabt. Nun will ich noch ein wenig zu Bismarck zurückkehren!
Recht von Herzen grüße ich Dich, meine liebe, kleine Frau!
Dein Heinz

 

 



Ansicht des Briefes

 

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